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Jochen Ostheimer | Den eigenen Untergang erzÀhlen, um ihn zu verhindern
hingegen entzieht sich die Zukunft aufgrund der KomplexitÀt der VerhÀlt-
nisse den Prognosen. Zudem entfaltet sie weniger Versprechungen als Be-
drohungen (vgl. Assmann 2013, 254; Gumbrecht 2012, 303).
Diese drei Eigenschaften, das nicht verdrÀngbare Nachwirken und Aus-
greifen der Vergangenheit auf die Zukunft, das Verschwimmen der Zukunft
hinter einem Schleier der KomplexitÀt und ihr grundsÀtzlich bedrohli-
cher Charakter, kennzeichnen auch das AnthropozÀn. Ausgerottete Arten
sind unwiederbringlich verloren, wÀhrend in die AtmosphÀre eingebrach-
te Treibhausgase oder im Untergrund vergrabener radioaktiver MĂŒll noch
Jahrhunderte oder Jahrhunderttausende zum VermÀchtnis an die jeweils
nachfolgende Generation gehören.13 Die Aussichten sind infolge der Um-
weltdegradation alles andere als rosig, wie beispielsweise die Studien zu
den vielfach schon ĂŒberschrittenen planetarischen Grenzen zeigen (vgl.
Rockström u. a. 2009).
Angesichts der paradoxen Dynamik, dass die Eigenmacht der Geschichte
mit ihrer Machbarkeit wÀchst, dass mit der technisch ermöglichten Steige-
rung von Planungs- und Handlungsmöglichkeiten die Unplanbarkeit und
das Risiko ebenfalls zunehmen (vgl. Koselleck 1979, 61; Beck 1986), scheint
die Methode des Szenarios aufgrund ihrer steuerbaren VariabilitÀt beson-
ders geeignet, die Zukunft denkerisch und planend in den Griff zu bekom-
men. Auf diese Weise soll Ăbersichtlichkeit hergestellt und soll ein ratio-
nales Handeln ermöglicht werden. Allerdings zeigt sich immer deutlicher
eine Diskrepanz zwischen der Vielzahl an Szenarien und Studien zum Kli-
mawandel und dem Vertagen der angezeigten Transformation der gesell-
schaftlichen VerhÀltnisse. Damit erhÀlt das immer wieder neue und detail-
liertere Modellieren von KlimaverlÀufen entgegen der Absicht der Autoren
vielleicht eine ganz neue Bedeutung. Als Nebeneffekt suggeriert es, wie es
eben zur Methode der Szenarien gehört, ein Wissensdefizit, wo eigentlich
schon lÀngst Klarheit herrscht, nÀmlich dass die ErderwÀrmung stattfin-
det, menschengemacht ist, ĂŒberwiegend negative Folgen zeitigt und durch
groĂe, aber machbare Anstrengungen begrenzt werden kann. Mit Blick auf
die politische Wirkung ist es daher fraglich, ob diese Form des ErzÀhlens
der drohenden Klimakatastrophe noch einen Beitrag dazu leistet, sie zu
verhindern. Vielleicht brÀuchte es in der aktuellen Situation eher Szenarien
einer klimakompatiblen Gesellschaft und insbesondere ansprechende Mo-
dellierungen, wie der Weg dorthin gestaltet werden kann.
Es herrscht eigentlich schon lÀngst Klarheit.
13 Die vom deutschen Bundesmin-
isterium fĂŒr Umwelt, Naturschutz
und nukleare Sicherheit formu-
lierten Sicherheitsanforderungen
an Endlager fĂŒr AtommĂŒll nennen
einen Zeitraum von einer Million
Jahre; www.bmu.de/themen/atom-
energie-strahlenschutz/nukleare-
sicherheit/sicherheit-endlager/
sicherheitsanforderungen [23. Aug.
2019].
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 3:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 3:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 222
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven