Seite - 107 - in Limina - Grazer theologische Perspektiven, Band 3:1
Bild der Seite - 107 -
Text der Seite - 107 -
107 | www.limina-graz.eu
Edith Petschnigg | Generationen im jüdisch-christlichen Dialog seit 1945
waren also so menschlich auf einer Ebene, sodass ich deutlich spüren
konnte, der hat nichts mehr gegen mich. Er war uneingeschränkt of-
fen, uneingeschränkt bereit, auf uns Christen zuzugehen, und blieb ganz
Jude. Also diese andere Seite, keiner musste von sich etwas wegtun, jeder
konnte ganz er sein und wurde ganz als solcher anerkannt. Und diese At-
mosphäre war so ein ganzes Stück auch Befreiung“ (Interview Jacobs).
Wie der Auseinandersetzung mit der erlebten (und zum Teil mitverant-
worteten) NS-Vergangenheit auf christlicher Seite oftmals eine gewichtige
Rolle für ein Engagement im jüdisch-christlichen Dialog zukam, so stand
auf jüdischer Seite vielfach der Wunsch im Zentrum, wieder jüdisch-christ-
liche Beziehungen aufzunehmen, um beispielsweise über das Judentum zu
informieren und so alte antijüdische Klischees abbauen zu können. Das Be-
streben nach einem solchen Neubeginn sieht etwa der aus Ungarn stam-
mende emeritierte Rabbiner von Basel, Hermann Schmelzer, – selbst Über-
lebender der Schoah – als treibende Kraft seiner Beteiligung am Dialog an:
„Und dann stellen wir Juden oft die Frage, eben die Situation muss auch
von unserer Seite geändert werden: eine Öffnung, Gesprächsbereitschaft,
Gedankenaustausch. […] Meine Einstellung ist – und das habe ich in
Schrift und Wort mehrmals formuliert: Wir müssen ein neues Blatt auf-
schlagen in den Beziehungen. Ich bin nicht einer, der ständig am Alten
bleibt“ (Interview Schmelzer).
Der Ballast der Vergangenheit brachte es mit sich, dass im Dialog jede Form
einer möglichen Kontroverse von christlicher Seite tunlichst vermieden
wurde. So war die Anfangszeit des jüdisch-christlichen Gesprächs an der
Basis meist von einer unausgesprochenen Rollenverteilung der Dialogpart-
nerInnen geprägt: Der Part der jüdischen Teilnehmenden war es zu lehren,
während die mehrheitlich christliche Teilnehmendenschaft zuhörte. Diese
Wahrnehmung eines asymmetrisch geprägten jüdisch-christlichen Dia-
logs, der sich nicht nur auf die ersten Jahre beschränkte, schildert etwa die
holländische Jüdin Jacqueline Frankenhuis für die Jüdisch-Christliche Bibel-
woche von Bendorf:
„Am Anfang war das christlich-jüdische Gespräch sehr höflich. Eine
Tasse Tee? Ja, natürlich, wir haben 40 Jahre [gesagt], ‚Sie haben Recht‘,
‚ich habe auch Recht‘. […] Es gab keine Konfrontationen. Es war höflich.
So wie Rabbiner Brandt mal gesagt hat, jüdisch-christliche Zusammen-
arbeit meint, die Juden reden und die Christen hören zu. Das finde ich ein
bisschen chargiert, aber im Grunde ist das so“ (Interview Frankenhuis).
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 3:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 3:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 222
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven