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Johannes Thonhauser | Das Narrativ von Bedrohung und Widerstand
Im Jahr 2020 wird im österreichischen Bundesland Kärnten das 100-Jahr-
Jubiläum der Volksabstimmung vom 10. Oktober 1920 begangen. Zweifellos
hat kein anderes Ereignis der Kärntner Geschichte eine derartige identi-
tätsstiftende, zugleich aber auch konflikthaltige Kraft auf das kollektive
Gedächtnis des Landes ausgeübt (vgl. Fräss-Ehrfeld 1998, 778), wie jener
Schlusspunkt des knapp zweijährigen „Kärntner Abwehrkampfes“ gegen
Gebietsansprüche des damals neu entstandenen SHS-Staates1 in Südkärn-
ten. Die Mehrheit in den Abstimmungsgebieten, darunter auch zahlreiche
slowenischsprachige Kärntner und Kärntnerinnen, stimmte für den Ver-
bleib Südkärntens bei Österreich. Seit diesen Tagen wird das Erinnern dar-
an von Generation zu Generation sorgfältig weitergegeben, sei es im Kreis
der Familie, sei es in den Schulen, sei es in Organisationen oder Vereinen,
die sich diesem Erinnern verschrieben haben. Mit diesem Erinnern wur-
de aber auch ein gewisses Unbehagen an der Existenz einer slowenisch-
sprachigen Minderheit in eben jenen Abstimmungsgebieten Südkärntens
kultiviert. Auch wenn sich der daraus erwachsene „Minderheitenkonflikt“
gegenwärtig mehr und mehr in einen Generationenkonflikt transformiert,
dominiert er nach wie vor nicht nur den einschlägigen medialen und po-
litischen Diskurs, sondern auch die sozialwissenschaftliche Analyse (vgl.
Thonhauser 2019, 24).
Im vorliegenden Beitrag soll allerdings gezeigt werden, dass sich das hin-
ter Abwehrkampf und Volksabstimmung stehende Narrativ von Bedrohung
und Widerstand keineswegs auf den Konflikt um die slowenische Spra-
che beschränken lässt und bereits vor jenen Ereignissen nach dem Ersten
Weltkrieg zu einem Teil des kollektiven Gedächtnisses der Kärntner Bevöl-
kerung geworden war. Es lässt sich als wichtiges Motiv für die Ausformung
eines Kärntner „Heimatbewusstseins“ viele Generationen zurückverfol-
gen, lange bevor es mit der sogenannten „Volksgruppenfrage“ in Verbin-
dung gebracht wurde.
Dabei interessieren vor allem die unterschiedlichen Tradierungsarten und
Wandlungsformen dieses Narrativs. In den meisten Fällen werden his-
torische Ereignisse, aus denen eine Wir-Gruppe identitätsstiftende Kraft
schöpft, zu Mythen überformt und die Erinnerung daran wird über Gene-
rationen hinweg gepflegt, fortlaufend aktualisiert oder notfalls adaptiert.
Damit wird sich der erste Teil dieses Beitrags beschäftigen. Daneben kön-
Das Narrativ von Bedrohung und Widerstand
lässt sich viele Generationen zurückverfolgen.
1 So lautete die Kurzbezeichnung
des „Königreichs der Serben, Kroa-
ten und Slowenen“.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 3:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 3:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 222
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven