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Martina Schmidhuber | Mehr-Generationen-Wohnen als Zukunftsmodell
Menschen unter einem Dach scheint mühsam, vielmehr reizt die Option,
völlig individualisiert seinen Weg gehen zu können.
Zwischen diesen beiden Extremen – einerseits der Individualisierung, die
zur Einsamkeit führen kann, aber häufig aus Angst, in verbindlichen, fa-
miliären Verhältnissen unbezahlte, nicht wertgeschätzte Fürsorgearbeit
leisten zu müssen, angestrebt wird, und andererseits dem Mehr-Generati-
onen-Haus von früher, in dem die Aufgabenverteilung völlig klar war (der
Mann verdient das Geld, die Frau kümmert sich um alles zu Hause) – muss
ein guter Mittelweg gefunden werden, der Menschen nicht vereinsamen
lässt, Verantwortung für einander in vulnerablen Situationen übernehmen
lassen will und trotzdem genug Raum für die je eigenen Bedürfnisse bietet.
Zwischen Autonomie und Vulnerabilität
Vor allem für Menschen in vulnerablen Situationen kann ein Wohnen in
Gemeinschaft eine große Unterstützung sein. Gerät man in eine vulnera-
ble Situation, ist schnell spürbar, dass die Individualisierung ihre Schat-
tenseiten hat. Dann zeigt sich deutlich, wie sehr Menschen aufeinander
angewiesen sind (vgl. Matthews/Tobin 2016). Ein gebrochenes Bein oder
ein grippaler Infekt, der einen ans Bett fesselt, führt uns Menschen unse-
re inhärente Verletzlichkeit vor Augen. Deshalb ist es auch angemessener,
von Menschen in vulnerablen Situationen zu sprechen als von vulnerab-
len Personen oder Gruppen (vgl. z. B. Baars 2012, 205; auch Bozzaro/Boldt/
Schweda 2018).
Denn selbst Menschen, an die man als erstes denken mag, wenn von Vul-
nerabiltität die Rede ist – Menschen mit Behinderung, Menschen mit De-
menz, Kinder, Flüchtlinge –, sind nicht permanent vulnerabel, sondern
erst die Situation, in der sie sind, bringt ihre Verletzlichkeit, die allen Men-
schen inhärent ist, zum Vorschein. Schnell kann auch ein gesunder Mensch
in seiner Lebensmitte in eine vulnerable Situation kommen.
In diesem Sinne, dass zwar alle Menschen inhärent verletzlich sind, es aber
erst die spezifischen Situationen sind, die dies sichtbar und spürbar ma-
chen, unterscheiden die US-amerikanischen feministischen Philosophin-
nen Catriona Mackenzie, Wendy Rogers und Susan Dodds (2014) drei For-
Menschen sind nicht permanent vulnerabel, sondern erst die Situation,
in der sie sind, bringt ihre Verletzlichkeit zum Vorschein.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 3:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 3:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 222
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven