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Martina Schmidhuber | Mehr-Generationen-Wohnen als Zukunftsmodell
men der Vulnerabilität, denen Menschen ausgesetzt sind bzw. ausgesetzt
sein können: inhärent, situativ und pathogen.
̟ Menschen sind aufgrund ihrer conditio humana inhärent vulnera-
bel. Hunger, Durst, Schlafentzug, soziale Isolation – sobald basale
menschliche Bedürfnisse nicht erfüllt werden, steigt die Verletz-
lichkeit.
̟ Die zweite Form der Taxonomie, die situative Vulnerabilität, kann
Menschen in bestimmten Kontexten treffen, aus persönlichen, so-
zialen oder politischen Gründen. Beispiele dafür sind Naturkatas-
trophen, die von einem Tag auf den anderen Menschen obdachlos
werden lassen, oder auch verschiedene Erkrankungen, die aus dem
starken Subjekt schnell einen Pflegefall machen können, sodass
permanente Hilfe im Alltag gebraucht wird.
̟ Pathogene Vulnerabilität entsteht durch asymmetrische interper-
sonelle Beziehungen und institutionelle Strukturen. Dazu zählen
beispielsweise die Misshandlung oder auch Vernachlässigung eines
pflegebedürftigen Menschen durch einen Pflegenden oder der
Missbrauch eines Kindes durch einen Erwachsenen.
Diese drei Formen der Vulnerabilität zeigen, dass Menschen in „multip-
len Abhängigkeiten von der Umwelt und der gesellschaftlichen Mitwelt“
(Bielefeldt 2018, 34) stehen. Das menschliche Leben findet stets im Span-
nungsfeld zwischen Autonomie und Angewiesen-Sein auf andere statt (vgl.
dazu auch die Beiträge in Ernst 2017). Dieser Tatsache tragen auch die fe-
ministischen Philosophinnen Rechnung, indem sie darauf verweisen, dass
Autonomie immer relational ist, weil Menschen in soziale Kontexte ein-
gebettet sind und kein Monaden-Dasein führen. Menschen sind nicht nur
rationale Wesen, sondern haben auch eine emotionale, kreative und ima-
ginative Komponente (vgl. Mackenzie/Stoljar 2000). Zudem sind sie leibli-
che Wesen, was sie eben auch verletzlich und anfällig für Störungen macht,
wie es sich etwa im Burnout drastisch zeigt (vgl. Esterbauer/Paletta/Meer
2019).
Aufgrund dieses Spannungsfeldes, in dem sich Menschen bewegen, kann
Autonomie nicht bedeuten, in völliger Unabhängigkeit von anderen auf
rationale Weise seine eigenen Entscheidungen zu treffen. Vielmehr sind
Menschen aufeinander angewiesen und müssen anderen auch vertrauen
können (vgl. OʼNeill 2008). Dies ist allerdings meistens erst in vulnerablen
Situationen spürbar:
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 3:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 3:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 222
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven