Seite - 155 - in Limina - Grazer theologische Perspektiven, Band 3:1
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Martina Schmidhuber | Mehr-Generationen-Wohnen als Zukunftsmodell
blemen kommt, wie dies in der „normalen“ Welt der Fall wäre. Das gibt ih-
nen Sicherheit und das Gefühl der Selbständigkeit. In einem gewöhnlichen
Seniorenheim wäre diese Form der Freiheit aufgrund der strukturellen
Bedingungen oftmals gar nicht möglich. Diese Freiheit und Selbstbestim-
mung, die Menschen mit Demenz in eigens für sie geschaffenen Dörfern
leben können, bedingt, dass ihr Verhalten weniger herausfordernd ist, was
wiederum zeigt, dass sie sich offenbar wohl fühlen (vgl. auch Schmidhuber
2017).
Kritiker hingegen sehen Demenzdörfer mit großer Skepsis. Sie befürchten
eine Art Ghettoisierung von Menschen mit Demenz, weil sie in einen ab-
geschlossenen Bereich „gesperrt“ und nicht in die Gesellschaft integriert
werden. Darüber hinaus wird kritisiert, dass Menschen mit Demenz vor-
getäuscht wird, sie würden in einem „normalen“ Dorf leben. Einer dieser
Kritiker, Reimer Gronemeyer, betont die Integration von Menschen mit
Demenz in die Gesellschaft und fordert, dass sich die Gesellschaft dafür
ändern und gastfreundlicher werden muss (vgl. Gronemeyer 2013, 255). Er
geht noch einen Schritt weiter: Er plädiert dafür, Demenz nicht als Krank-
heit zu verstehen, sondern sich stattdessen den sozialen Herausforderun-
gen der Demenz zu stellen. Für problematisch hält Gronemeyer, dass viel
Geld in die Biomedizin fließt „und gleichzeitig der sozialen Dimension der
Demenz keine Aufmerksamkeit gewidmet werden muss.“ (Gronemeyer
2013, 43). Ziel soll es seines Erachtens sein, Demenz als einen Teil des Alt-
werdens zu begreifen, der nicht bekämpft werden muss:
„Warum wird das Altern des Gehirns ganz selbstverständlich als Krank-
heit definiert? Weil daraus die gesellschaftliche Marginalisierung des
Phänomens gerechtfertigt werden kann; es gehört dann ganz selbst-
verständlich in das Ghetto der medizinischen und pflegerischen Versor-
gung.“ (Gronemeyer 2013, 232)
Diese Überlegungen haben zwei Seiten: Zum einen lässt sich tatsächlich
eine Medikalisierung in unserer westlichen Gesellschaft diagnostizieren;
Bereiche, die früher nicht als Thema der Medizin galten, werden nun zu
einem Thema der Medizin gemacht (vgl. auch Schmidhuber 2016). Das be-
trifft nicht nur das Alter, das medikalisiert wird, sondern auch Kinder, die
als „zu lebhaft“ gelten. Bei ihnen wird schneller als früher eine Störung wie
Ist Demenz als Teil des Altwerdens zu begreifen,
der nicht bekämpft werden muss?