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Martina Schmidhuber | Mehr-Generationen-Wohnen als Zukunftsmodell
ADHS diagnostiziert, anstatt zu hinterfragen, ob ein Kind natürlicherwei-
se mehr Bewegung bräuchte oder das Regelschulsystem seine Tücken hat.
Es werden rasch Medikamente verschrieben, damit ein Kind ruhig sitzen
kann.
Auch wenn diese Tendenzen tatsächlich als äußerst problematisch einzu-
stufen sind, gilt es zu bedenken, dass es in manchen Fällen auch Vorteile ha-
ben kann, wenn etwas als Krankheit benannt wird. So ist man bei gewissen
Krankheiten üblicherweise von sozialen Verpflichtungen, z. B. der Arbeit,
befreit und kann von seiner Umwelt krankheitsgerechtes, d. h. rücksichts-
volleres Verhalten erwarten. Zudem kann erst, wenn etwas als Krankheit
benannt wird, eine passende medikamentöse oder nicht-medikamentöse
Therapie eingeleitet werden. Darüber hinaus kann es die Betroffenen und
ihre Umwelt entlasten, wenn Symptome, die man nicht zuordnen konnte,
einen Namen und damit auch Krankheitswert erhalten (vgl. Füsgen 2001).
Freilich, die Angst vor Stigmatisierung, gerade bei Demenz, ist ein Thema,
das erst dann auftaucht, wenn die Symptome benannt sind und eine Dia-
gnose gestellt wurde. Die Sorge, dann nicht mehr ernst genommen und in-
fantilisiert zu werden, ist nicht ganz unberechtigt, da es immerhin um den
geistigen Abbau geht (vgl. Schweda/Jongsma 2018). Und tatsächlich meidet
man es etwa in der türkischen Kultur aus Angst vor Stigmatisierung, den
Demenz-Symptomen einen Namen zu geben. Die Tendenz ist deshalb, De-
menz „als im Lebenslauf zu erwartende Alterserscheinung“ zu kategori-
sieren (Tezcan-Güntekin 2018, 223). Die Tabuisierung der Demenz in einer
Gesellschaft kann aber wiederum verhindern, dass Menschen mit Demenz
adäquat versorgt werden. Denn sie befinden sich zweifelsohne in einer vul-
nerablen Situation, in der sie mehr und mehr andere Menschen in ihrem
Alltag brauchen.
In Anbetracht dieser Überlegungen lässt sich zusammenfassend konsta-
tieren, dass unabhängig davon, ob man Demenz als Krankheit anerkennt
und benennt oder als normalen Teil des Altwerdens, eine gastfreundlichere
Welt im Sinne Gronemeyers, in der alle Menschen einen Platz haben, er-
strebenswert ist.
An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, wer denn für die postulierte
Gastfreundschaft sorgen soll: Sind es dann wieder die Frauen, denen die
„gastfreundliche Fürsorgearbeit“ nahegelegt wird? Gronemeyer versteht
Erstrebenswert ist eine gastfreundlichere Welt,
in der alle Menschen einen Platz haben.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 3:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 3:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 222
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven