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Wolfgang Benedek | Religiöser Fundamentalismus aus menschenrechtlicher Sicht
4 Religionsfreiheit und Meinungsäußerungsfreiheit
Das Menschenrecht auf Religionsfreiheit ist eines der historisch ersten
Menschenrechte und steht auch heute im Vordergrund menschenrecht-
licher Diskussionen um den Fundamentalismus. Es hat eine innere und
eine äußere Dimension, die innere betrifft die Glaubens- und Gewissens-
freiheit und die äußere die Ausübung der Religion, auch in der Öffentlich-
keit. Dabei bestehen die üblichen Einschränkungsmöglichkeiten, etwa aus
Gründen der öffentlichen Sicherheit, Gesundheit oder Moral, nur für die
äußere Ausübung. Das Ausmaß der mit der Religionsfreiheit verbundenen
Rechte hängt in der Praxis auch von der staatlichen Anerkennung ab (vgl.
Benedek 2018, 253–274).
Religiöser Fundamentalismus, ob christlicher, jüdischer oder islamischer
Natur, ist durch die Religionsfreiheit solange geschützt, als damit nicht
eine (Aufstachelung zu) Gewaltanwendung bzw. religiösem Hass oder ein
Eingriff in die Rechte und Freiheiten anderer verbunden ist. Die Verfolgung
der Zeugen Jehovas und die Auflösung ihrer Einrichtungen durch russi-
sche Behörden wegen Extremismusvorwürfen ist daher nicht gerechtfer-
tigt.2 Hingegen kann der Schutz religiöser Gefühle etwa gegen Blasphemie
durch die Religionsfreiheit gedeckt sein.3 Allerdings werden Diffamierung
und Blasphemie von autoritären Staaten auch zur Einschränkung der Mei-
nungsäußerungsfreiheit oder der Religionsfreiheit genutzt.4
Die Grenze zwischen Blasphemie und Menschenrechten steht in einer ge-
wissen Abhängigkeit von Ort und Zeit (vgl. Bielefeldt 2013). So gab es in der
Vergangenheit einige Fälle, wo die von nationalen Gerichten getroffenen
Einschränkungen der Freiheit der Kunst oder der Meinungsäußerung aus
Gründen der Moral oder der Rechte anderer vom Europäischen Gerichtshof
für Menschenrechte als legitim und auch in einer demokratischen Gesell-
schaft als erforderlich beurteilt wurden (vgl. Grabenwarter/Pabel 2016).
Während sich die christlichen Kirchen und Gläubigen im Zug der Säkula-
risierung der Gesellschaft vor allem in Westeuropa in ihrer Mehrheit an
einen weiten Begriff der Meinungsäußerungsfreiheit gewöhnt haben, ging
die Entwicklung in anderen Gesellschaften in eine andere Richtung. Dies
war durch neue fundamentalistische Strömungen begünstigt, wobei die-
se in einigen Ländern, wie etwa der Türkei, aus Gründen des politischen
2 Europäischer Gerichtshof für
Menschenrechte, Jehova’s Wit-
nesses of Moscow v. Russia, No.
302/02, 10.06.2010, und GLAZOV
LRO and others v. Russia, No. 3215/18,
15.01.2018, noch nicht entschieden.
3 Siehe Europäischer Gerichts-
hof für Menschenrechte, Research
Division, Overview of the Court’s case
law on Freedom of Religion, https://
www.echr.coe.int/Documents/
Research_report_religion_ENG.
pdf [09.03.2021], und insbesondere
Otto-Preminger-Institut v. Österreich,
20.09.1994.
4 Siehe den einschlägigen Bericht
des UNO-Sonderberichterstatters
für Religionsfreiheit: UN expert urges
States to protect „mutually reinforc-
ing“ freedoms of expression, religion
and belief, https://www.ohchr.org/
en/NewsEvents/Pages/DisplayNews.
aspx?NewsID=24257&LangID=E
[09.03.2021].
Die Grenze zwischen Blasphemie und Menschenrechten
steht in einer gewissen Abhängigkeit von Ort und Zeit.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 4:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 4:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 224
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven