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Wolfgang Benedek | Religiöser Fundamentalismus aus menschenrechtlicher Sicht
äußerungsfreiheit verweigert werden, die seine Kritiker sehr wohl in An-
spruch nehmen.
Der Schlüssel zur Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts ist ein
Zusammenleben auf Grundlage der Menschenrechte. Wenn von mancher
Seite der Einwand kommt, dass diese manchmal missbraucht werden, etwa
um in Hassreden gegen Andersdenkende und Andersgläubige zu hetzen,
dann ist eine Klarstellung notwendig. So enthält die Allgemeine Erklärung
der Menschenrechte von 1948 in Artikel 30 den Grundsatz, dass keine Be-
stimmung der Erklärung so ausgelegt werden dürfe, dass sich daraus ein
Recht ergibt, eine Handlung vorzunehmen, die auf die Zerstörung eines
der Rechte in der Erklärung abzielt. Die Europäische Menschenrechtskonven-
tion von 1950 hat dies in Artikel 17 über das Verbot des Rechtsmissbrauchs
noch deutlicher gemacht, wenn sie ausführt, dass die Konvention nicht so
ausgelegt werden dürfe, als begründe sie ein Recht, eine Handlung vorzu-
nehmen, die in der Konvention festgelegte Rechte und Freiheiten abschaf-
fe oder stärker einschränke, als es in der Konvention vorgesehen ist. Der
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat diese Bestimmung in ver-
schiedenen Fällen herangezogen, wo es um Hassrede unter Berufung auf
die Meinungsäußerungsfreiheit ging. Dazu gehört auch religiöse Hassrede,
wie im Fall Belkacem v. Belgium von 2017, wo der Gerichtshof im Fall des
Sprechers einer Organisation namens Sharia4Belgium, der zu Diskriminie-
rung, Hass und Gewalt gegen Nicht-Muslime aufgestachelt hatte, eine Be-
handlung seiner Beschwerde aufgrund einer behaupteten Verletzung der
Meinungsäußerungsfreiheit verweigerte.8 Der Missbrauch der Menschen-
rechte fordert die wehrhafte Demokratie heraus, ihre Existenz zu sichern,
zu welchem Zweck die Menschenrechte auch temporär eingeschränkt wer-
den können (vgl. Benedek 2005, 310–311).
Hingegen ist die religiöse Meinungsäußerungsfreiheit sowohl unter dem
Recht auf Religionsfreiheit als auch der Meinungsäußerungsfreiheit ge-
schützt und darf nicht durch eine zu weite Gesetzgebung gegen Extremis-
mus eingeschränkt werden. Im Fall Ibrahim Ibragimov et.al. v. Rußland von
2018 stellte der Gerichtshof fest, dass ein Verbot der Veröffentlichung und
Verbreitung bestimmter islamischer Bücher als extremistisch der Mei-
nungsäußerungsfreiheit widersprochen habe. Die russischen Gerichte
hätten es versäumt, die Notwendigkeit der Maßnahme ausreichend zu be-
gründen, vor allem, ob die Bücher zu interreligiösen Spannungen oder gar
Gewalt geführt hätten.9
8 European Court of Human Rights,
Fact sheet on hate speech, Strasbourg
2020, https://www.echr.coe.int/Do-
cuments/FS_Hate_speech_ENG.pdf
[30.11.2020].
9 Ibid.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 4:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 4:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 224
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven