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Christian Feichtinger | Reinheit und fundamentalistische Gefährdung
Wahrnehmung von als minderwertig angesehenen Gruppen mit Abscheu
einher, was zu gänzlich anderen Reaktionen, Metaphern und Darstellun-
gen führt (vgl. Haslam 2006, 252–264).
Dies trifft im Besonderen dann zu, wenn Verhalten oder Aussagen jene Be-
reiche des Lebens berühren, die in einem sozialen System als unantastbar,
tabuisiert oder heilig gelten; also besonders von Beschmutzung und Un-
reinheit bedroht sind. In allen kulturellen Weltdeutungen – religiös oder
nicht-religiös – wird bestimmten Gegenständen, Lebensbereichen oder
Ideen ein besonderer Wert zuerkannt. Wie Douglas aufgezeigt hat, wird
durch deren geordnete Festlegung zugleich deren Negation zu etwas Be-
drohlichem, Unreinem, Widerwärtigem, das die Integrität von Gesell-
schaft, Körper und Seele gefährdet (vgl. Shweder et al. 1997, 147–148).
Gutes, moralisches Verhalten zeigt sich hingegen in der Entsprechung zu
diesen hervorgehobenen Bereichen:
„From a purity standpoint, it is virtuous to reject contaminating forces or
hedonistic pleasure, to cleanse the soul, and to act in accordance with the
‚natural order‘. It is immoral to behave in a way that is self-polluting,
filthy, profane, carnal, hedonistic, unnatural, animal-like, or ungodly“
(Haidt/Graham 2007, 106).
Bewertungen von Handlungen als ‚unmoralisch‘, ‚unnatürlich‘ etc. sind
daher von einem purity standpoint aus betrachtet stets eine Folge von Rein-
heits- und Unreinheitsvorstellungen.
Zusammenfassend: Liest man nun Douglasʼ Beobachtungen zur Reinheit
mit sozialpsychologischen Befunden zu Abscheu und Ekelempfinden zu-
sammen, ergibt sich ein Schema, welches als Grundlage einer Fundamen-
talismus-Analyse fungieren kann:
1. Menschen (individuell und sozial) verfügen über symbolische Ord-
nungs- und Interpretationssysteme, um sich in der Welt orientie-
ren zu können.
2. Diese Ordnungssysteme bringen zugleich Unordnung hervor, in-
dem sie durch ihre Kategorien Phänomene einschließen oder
aus schließen; das Ausgeschlossene wird zu einer Anomalie. Als
Anoma
lie wird das Nicht-Kategorisierte jedoch selbst zu einer
Bewertungen von Handlungen als ‚unmoralisch‘ oder ‚unnatürlich‘ können als
eine Folge von Reinheits- und Unreinheitsvorstellungen betrachtet werden.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 4:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 4:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 224
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven