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Christian Feichtinger | Reinheit und fundamentalistische Gefährdung
integrieren, und um Unklarheiten zu beseitigen, wird nun das eigene Ord-
nungssystem verengt. Eine Strategie des Fundamentalismus ist es, diese
Vereindeutigung zu verstehen als Rückgriff auf eine ursprüngliche, ima-
ginierte reine Form des (religiösen) Systems; die Religion wird gleichsam
von historischen Fehlentwicklungen gereinigt und in ihren wahren Zustand
zurückversetzt (vgl. Antoun 2001, 55): „Wahrheitsobsession, Geschichts-
verneinung und Reinheitsstreben sind […] Grundbegriffe von Ambiguitäts-
intoleranz, die die Basis jedes Fundamentalismus bilden.“ (Bauer 2018, 29)
Diese Strategie ist jedoch nicht exklusiv fundamentalistisch, sondern ins-
gesamt typisch für (religiöse) Reformbewegungen – zum Fundamentalis-
mus bedarf es also noch weiterer Entwicklungen.
Der nächste Schritt ist es, Abweichungen nicht nur als falsch, böse oder
unmoralisch zu brandmarken, sondern als Gefährdung der Reinheit des
eigenen Systems. Ideen, Handlungen oder gesellschaftliche Entwicklun-
gen gelten nun als ‚ansteckend‘, als Bedrohungen und Unterwanderun-
gen. Ein Nebeneinander scheint nicht mehr möglich ohne Preisgabe des
eigenen Systems. Hier wird nun die menschliche Fähigkeit zum Abscheu
wirksam. Dies lässt sich mit Studien zum Ekelempfinden gut untermau-
ern; Proband:innen empfinden Abscheu gegenüber ‚widerwärtigen‘ Ver-
haltensweisen, Ideen oder Aussagen, nicht jedoch bei ‚falschen‘ Aussagen
oder Handlungen (vgl. Horberg et al. 2009; Ritter et al. 2016). Es kommt zu
einem tief empfundenen Unbehagen; das physische Erleben von Abscheu
wird subjektiv auch auf Ideen und Handlungen übertragen, oder tatsäch-
lich physisch erlebt. Die Bedrohung wird so am eigenen Leib erfahren.
Nach Douglas hat jedes Ordnungssystem nun fünf Möglichkeiten, mit ver-
unsichernden, gefährdenden Anomalien umzugehen, ohne sich selbst än-
dern zu müssen (vgl. Douglas 1985, 57–59):
1. Die Anomalie wird so reinterpretiert, dass sie mit dem Deu-
tungssystem doch kompatibel ist.
2. Die Anomalie wird physisch eliminiert.
3. Die Anomalie wird vermieden, tabuisiert, aus dem Blickfeld ent-
fernt.
4. Die Anomalie wird als gefährlich markiert und stigmatisiert oder
verfolgt.
5. Die Anomalie wird durch ein Ritual in das Ordnungssystem inte-
griert.
Abweichende Ideen werden zu Bedrohungen.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 4:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 4:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 224
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven