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LIMINA - Grazer theologische Perspektiven
Limina - Grazer theologische Perspektiven, Band 4:1
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80 | www.limina-graz.eu Christian Feichtinger | Reinheit und fundamentalistische Gefährdung Wurde ein Ordnungssystem bereits, wenn man der Definition Bauers folgt, ‚vereindeutigt‘, und gibt es keine Möglichkeit mehr, es zu reformieren, bleiben diese fünf ‚negativen‘ Reaktionsmöglichkeiten übrig. Ultraortho- doxe oder traditionalistische Gruppen, die sich gefährdet fühlen, können durch die Strategien 1 (Uminterpretation), 3 (Vermeidung) und 5 (Integra- tion durch Ritual) noch Wege finden, mit Abweichungen und Anomalien umzugehen, etwa durch Rückzug, Weltflucht und Reinigungs-, Buß- oder Konversionsrituale. Definitiv von Fundamentalismus zu sprechen ist hinge- gen dann, wenn die Reinheit eines Ordnungssystems durch die Strategien 2 (Elimination) und 4 (Stigmatisierung und Verfolgung) vor ihren vermeint- lichen Gefährdungen bewahrt wird; „Ungewissheit, Unsicherheit und Am- bivalenz können nicht toleriert, sondern müssen als unrein beseitigt wer- den, um ein homogenes, symbolisch konsistentes Universum zu erschaf- fen“ (Boehler 2011, 44) – das Gefährdete wird nun selbst zu einer Gefahr. Gewalt ist demnach nichts, was von außen zu diesem Prozess hinzutritt, sie wohnt ihm als Potenzial inne. Sie tritt im Fundamentalismus auf als virtuous violence, als Gewalt, die durch vorgeblich positive und notwendi- ge Ziele gerechtfertigt wird. Sie wird möglich durch eine extreme Identi- fikation des Einzelnen mit jener sozialen Gruppe, die er als Trägerin des Ordnungssystems betrachtet. Umgekehrt gelten Menschen außerhalb der Gruppe sowie interne ‚Abweichler:innen‘ nicht mehr als Individuen, son- dern als Repräsentant:innen jener Handlungen, Ideen und Gruppen, die das eigene System gefährden, sie werden dehumanisiert. Zu den Prozessen der Weltdeutung treten gruppendynamische Prozesse hinzu, die im Zusammenspiel fundamentalistische Gewalt ermöglichen: Die jüngere Forschung in der Sozialpsychologie und der Kognitiven Reli- gions wissenschaft (vgl. Norenzayan 2013) zeigt, dass Menschen weitaus sozialer und gruppenorientierter sind als angenommen. Menschen handeln keineswegs primär als Individuen, sondern wollen Beziehungen haben, und auch ihre Motivationen, Ziele und Handlungsweisen sind wesentlich beziehungsbezogen (vgl. Fiske 1992, 689). Dies lässt sich auch für Studien zum politischen Wahlverhalten von Menschen ausweisen: Sie wählen kei- neswegs aus ichbezogenen Motiven, sondern zu Gunsten der Gruppen, mit denen sie sich identifizieren (vgl. Kinder 1998, 808).10 Van Leeuwen et al. (2012) konnten dabei zeigen, dass die Angst vor Ansteckung, Kontamina- tion und Verunreinigung bei Menschen zu noch engeren Bindungen führt. Das Gefährdete kann selbst zur Gefahr werden. 10 Dies erklärt die häufige Verwun- derung in Wahlberichterstattungen, warum Menschen Parteien wählen, die ihrer individuellen Lebenssitua- tion nicht direkt nützen: Sie wählen nicht für sich, sondern für ihre Eth- nie, Nation, religiöse Gruppe oder für andere soziale Klassifikationen, mit denen sie sich identifizieren. Die Identifikationen sind hier jedoch subjektiv; jemand kann sich etwa mehr über seinen Beruf oder seine soziale Klasse identifizieren als über seine ethnische Herkunft oder sein Geschlecht und sehr wohl Partei- en wählen, die seiner ethnischen Gruppe oder seinen Geschlechtge- noss:innen insgesamt nicht förder- lich sind.
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Limina Grazer theologische Perspektiven, Band 4:1
Titel
Limina
Untertitel
Grazer theologische Perspektiven
Band
4:1
Herausgeber
Karl Franzens University Graz
Datum
2021
Sprache
deutsch
Lizenz
CC BY 4.0
Abmessungen
21.4 x 30.1 cm
Seiten
224
Kategorien
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