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Christian Feichtinger | Reinheit und fundamentalistische Gefährdung
Wurde ein Ordnungssystem bereits, wenn man der Definition Bauers folgt,
‚vereindeutigt‘, und gibt es keine Möglichkeit mehr, es zu reformieren,
bleiben diese fünf ‚negativen‘ Reaktionsmöglichkeiten übrig. Ultraortho-
doxe oder traditionalistische Gruppen, die sich gefährdet fühlen, können
durch die Strategien 1 (Uminterpretation), 3 (Vermeidung) und 5 (Integra-
tion durch Ritual) noch Wege finden, mit Abweichungen und Anomalien
umzugehen, etwa durch Rückzug, Weltflucht und Reinigungs-, Buß- oder
Konversionsrituale. Definitiv von Fundamentalismus zu sprechen ist hinge-
gen dann, wenn die Reinheit eines Ordnungssystems durch die Strategien 2
(Elimination) und 4 (Stigmatisierung und Verfolgung) vor ihren vermeint-
lichen Gefährdungen bewahrt wird; „Ungewissheit, Unsicherheit und Am-
bivalenz können nicht toleriert, sondern müssen als unrein beseitigt wer-
den, um ein homogenes, symbolisch konsistentes Universum zu erschaf-
fen“ (Boehler 2011, 44) – das Gefährdete wird nun selbst zu einer Gefahr.
Gewalt ist demnach nichts, was von außen zu diesem Prozess hinzutritt,
sie wohnt ihm als Potenzial inne. Sie tritt im Fundamentalismus auf als
virtuous violence, als Gewalt, die durch vorgeblich positive und notwendi-
ge Ziele gerechtfertigt wird. Sie wird möglich durch eine extreme Identi-
fikation des Einzelnen mit jener sozialen Gruppe, die er als Trägerin des
Ordnungssystems betrachtet. Umgekehrt gelten Menschen außerhalb der
Gruppe sowie interne ‚Abweichler:innen‘ nicht mehr als Individuen, son-
dern als Repräsentant:innen jener Handlungen, Ideen und Gruppen, die
das eigene System gefährden, sie werden dehumanisiert.
Zu den Prozessen der Weltdeutung treten gruppendynamische Prozesse
hinzu, die im Zusammenspiel fundamentalistische Gewalt ermöglichen:
Die jüngere Forschung in der Sozialpsychologie und der Kognitiven Reli-
gions wissenschaft (vgl. Norenzayan 2013) zeigt, dass Menschen weitaus
sozialer und gruppenorientierter sind als angenommen. Menschen handeln
keineswegs primär als Individuen, sondern wollen Beziehungen haben,
und auch ihre Motivationen, Ziele und Handlungsweisen sind wesentlich
beziehungsbezogen (vgl. Fiske 1992, 689). Dies lässt sich auch für Studien
zum politischen Wahlverhalten von Menschen ausweisen: Sie wählen kei-
neswegs aus ichbezogenen Motiven, sondern zu Gunsten der Gruppen, mit
denen sie sich identifizieren (vgl. Kinder 1998, 808).10 Van Leeuwen et al.
(2012) konnten dabei zeigen, dass die Angst vor Ansteckung, Kontamina-
tion und Verunreinigung bei Menschen zu noch engeren Bindungen führt.
Das Gefährdete kann selbst zur Gefahr werden.
10 Dies erklärt die häufige Verwun-
derung in Wahlberichterstattungen,
warum Menschen Parteien wählen,
die ihrer individuellen Lebenssitua-
tion nicht direkt nützen: Sie wählen
nicht für sich, sondern für ihre Eth-
nie, Nation, religiöse Gruppe oder
für andere soziale Klassifikationen,
mit denen sie sich identifizieren. Die
Identifikationen sind hier jedoch
subjektiv; jemand kann sich etwa
mehr über seinen Beruf oder seine
soziale Klasse identifizieren als über
seine ethnische Herkunft oder sein
Geschlecht und sehr wohl Partei-
en wählen, die seiner ethnischen
Gruppe oder seinen Geschlechtge-
noss:innen insgesamt nicht förder-
lich sind.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 4:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 4:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 224
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven