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Christian Feichtinger | Reinheit und fundamentalistische Gefährdung
dringlinge‘, die als Gefährdung der Homogenität, des gemeinsam Geteil-
ten, wahrgenommen werden. CS-Gruppen können sich negativ auswirken,
indem sie Individualität zu Gunsten der Gruppe negieren oder auflösen und
das gemeinsame Band zum Ausschlusskriterium für Außenstehende wird,
aus dem sich ein ‚Wir gegen die anderen‘ entwickeln kann. Um nicht-kon-
formes Verhalten zu bekämpfen, Abweichler:innen zu bestrafen oder die
Integrität der Gruppe gegen Außenstehende zu verteidigen, können CS-
Modelle dann auch Gewalt anwenden; in manchen Fällen dienen schwä-
chere Formen von Gewalt zudem als Initiationsritual (vgl. Fiske 1992, 693–
700). Die Reinheit des Ordnungssystems verbindet sich auf diese Weise mit
einer Reinheit des sozialen Systems – es kommt zu einem Zusammenwir-
ken von ideologischen und sozialen Dynamiken, die beide ein ihnen eige-
nes Gewaltpotenzial aufweisen.
Die rigide Interpretation des Ordnungssystems, das eine vermehrte Kon-
frontation mit Anomalien und Bedrohungen erzeugt, verbindet sich mit
dieser besonders engen Form der Gruppenbildung, woraus ein spezifisches
Gewaltpotenzial erwächst, wenn die Reinheit des eigenen Systems nicht
mehr ausreichend von der ‚Gefährdung‘ durch das Unreine abzugrenzen
ist. Die Rigidität und das Bedrohungsgefühl des Ordnungssystems korre-
spondieren mit der sozialen Struktur der Gruppe und deren Sprache und
Verhaltensweisen, die ebenso enggeführt werden und zugleich einer Viel-
zahl von (imaginierten) Bedrohungen ausgesetzt sind. Die Hinwendung
zu Autoritarismus erscheint dabei als Nebeneffekt dieses Prozesses: Der
Maßstab für die Beurteilung und die Rolle von Autoritätspersonen (die es
in jedem sozialen System gibt) verschiebt sich in diesem Prozess hin zu
deren Fähigkeit, die vermeintlichen Bedrohungen abzuwehren. Die Her-
vorhebung von Bedrohungen dient zugleich wieder der Stabilisierung der
Gruppe.
Als Veranschaulichung kann der Salafismus herangezogen werden: Aladin
El-Mafalaani spricht bei salafistischen Gruppen von einer „Provokation
der kollektiven Askese“ (El-Mafalaani 2017, 79): Die strenge, enggeführ-
te Deutung der islamischen Lehre verbindet sich mit einer eng definierten
Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe und einer strengen Regelung des Le-
bens: Sie betonen den Verzicht auf eine als verkommen geltende ‚Spaß-
gesellschaft‘, auf deren Verlockung von Konsum, Sex, Alkohol und Feiern
Autorität wird gemessen an der zugeschriebenen
Fähigkeit, Bedrohungen von der Gruppe abzuwehren.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 4:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 4:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 224
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven