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Christian Feichtinger | Reinheit und fundamentalistische Gefährdung
Notwendigkeit, und Menschen fühlen Abscheu vor Ideen, Handlungen oder
Menschen, welche ihre Weltdeutung gefährden. Jedes Ordnungssystem er-
zeugt jedoch aus sich heraus Anomalien, die ihm widersprechen. Je enger
das Ordnungssystem geführt ist, desto höher wird die Zahl potenzieller Be-
drohungen. Fundamentalismus kann daher begriffen werden als gewalt-
samer Versuch, das eigene Ordnungssystem zu verteidigen oder durchzu-
setzen, und zwar so, dass die Anwendung von Gewalt durch das Ordnungs-
system selbst motiviert und gerechtfertigt erscheint und nicht nur ultima
ratio ist. Die Verbindung aus Reinheit und Kontamination führt zudem zu
einer Dehumanisierung der vermeintlichen Bedrohungen, zu einer Abwer-
tung von Menschen, welche Gewalt an ihnen zusätzlich legitimiert.
Fundamentalismus zeigt sich also als gewaltsames Streben nach Reinheit,
wobei diese Gewalt als Potenzial schon allen Bedeutungssystemen inhä-
rent ist: Alle Orientierungssysteme sind prinzipiell anfällig für fundamen-
talistische Ausprägungen. Das betrifft Religionen ebenso wie nicht-reli-
giöse Systeme. Neben der Reinheit der Lehre oder der moralischen Reinheit
betrifft dies auch die Reinheit von Orten, Nationen, Bevölkerungsgruppen,
Ethnien, Verhaltensweisen, politischen Ideen und vielem mehr. Auf diese
Weise kann sich Gewalt auch gegen Menschen richten, die Minderheiten
darstellen, insofern deren Anwesenheit oder deren Verhaltensweisen als
kontaminierend, als Bedrohung einer symbolischen Ordnung der Mehrheit
markiert werden. Aber auch symbolische Kategorien wie Narrative, Ge-
schichtsdeutungen oder Objekte können zum Ziel purifizierender Gewalt
werden; indem etwa unliebsame Ereignisse oder Personen aus der kollek-
tiven Erinnerung oder öffentlichen Wahrnehmung entfernt werden. Auch
Ausprägungen der sog. cancel culture, welche unliebsame Meinungen oder
Personen aus der Öffentlichkeit oder vom ‚heiligen‘ Universitätscampus
verbannen will, könnten unter diesen Gesichtspunkten diskutiert und ana-
lysiert werden. Wo diese Formen der Purifizierung auch gewaltsam oder
gewaltoffen legitimiert und durchgesetzt werden, lässt sich von säkularen
Formen des Fundamentalismus sprechen, auch in einem akademischen
Kontext.
Fundamentalismus, in diesem Sinn verstanden, ist daher mit der Funk-
tionsweise menschlicher Formen von Weltdeutung und daraus hervor-
gehenden Sozialisationsformen untrennbar verbunden. Er ist nicht deren
Alle Orientierungssysteme sind prinzipiell anfällig
für fundamentalistische Ausprägungen.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 4:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 4:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 224
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven