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LIMINA - Grazer theologische Perspektiven
Limina - Grazer theologische Perspektiven, Band 4:1
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85 | www.limina-graz.eu Christian Feichtinger | Reinheit und fundamentalistische Gefährdung Notwendigkeit, und Menschen fühlen Abscheu vor Ideen, Handlungen oder Menschen, welche ihre Weltdeutung gefährden. Jedes Ordnungssystem er- zeugt jedoch aus sich heraus Anomalien, die ihm widersprechen. Je enger das Ordnungssystem geführt ist, desto höher wird die Zahl potenzieller Be- drohungen. Fundamentalismus kann daher begriffen werden als gewalt- samer Versuch, das eigene Ordnungssystem zu verteidigen oder durchzu- setzen, und zwar so, dass die Anwendung von Gewalt durch das Ordnungs- system selbst motiviert und gerechtfertigt erscheint und nicht nur ultima ratio ist. Die Verbindung aus Reinheit und Kontamination führt zudem zu einer Dehumanisierung der vermeintlichen Bedrohungen, zu einer Abwer- tung von Menschen, welche Gewalt an ihnen zusätzlich legitimiert. Fundamentalismus zeigt sich also als gewaltsames Streben nach Reinheit, wobei diese Gewalt als Potenzial schon allen Bedeutungssystemen inhä- rent ist: Alle Orientierungssysteme sind prinzipiell anfällig für fundamen- talistische Ausprägungen. Das betrifft Religionen ebenso wie nicht-reli- giöse Systeme. Neben der Reinheit der Lehre oder der moralischen Reinheit betrifft dies auch die Reinheit von Orten, Nationen, Bevölkerungsgruppen, Ethnien, Verhaltensweisen, politischen Ideen und vielem mehr. Auf diese Weise kann sich Gewalt auch gegen Menschen richten, die Minderheiten darstellen, insofern deren Anwesenheit oder deren Verhaltensweisen als kontaminierend, als Bedrohung einer symbolischen Ordnung der Mehrheit markiert werden. Aber auch symbolische Kategorien wie Narrative, Ge- schichtsdeutungen oder Objekte können zum Ziel purifizierender Gewalt werden; indem etwa unliebsame Ereignisse oder Personen aus der kollek- tiven Erinnerung oder öffentlichen Wahrnehmung entfernt werden. Auch Ausprägungen der sog. cancel culture, welche unliebsame Meinungen oder Personen aus der Öffentlichkeit oder vom ‚heiligen‘ Universitätscampus verbannen will, könnten unter diesen Gesichtspunkten diskutiert und ana- lysiert werden. Wo diese Formen der Purifizierung auch gewaltsam oder gewaltoffen legitimiert und durchgesetzt werden, lässt sich von säkularen Formen des Fundamentalismus sprechen, auch in einem akademischen Kontext. Fundamentalismus, in diesem Sinn verstanden, ist daher mit der Funk- tionsweise menschlicher Formen von Weltdeutung und daraus hervor- gehenden Sozialisationsformen untrennbar verbunden. Er ist nicht deren Alle Orientierungssysteme sind prinzipiell anfällig für fundamentalistische Ausprägungen.
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Limina Grazer theologische Perspektiven, Band 4:1
Titel
Limina
Untertitel
Grazer theologische Perspektiven
Band
4:1
Herausgeber
Karl Franzens University Graz
Datum
2021
Sprache
deutsch
Lizenz
CC BY 4.0
Abmessungen
21.4 x 30.1 cm
Seiten
224
Kategorien
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