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Adem Aygün | Fundamentalismus im zeitgenössischen islamischen Denken
Modernismus
Der islamische Modernismus, der in diesem Beitrag als dritter Ansatz dis-
kutiert wird, argumentiert, dass Muslime ihre Lebenssituation und Tradi-
tion verändern und eine neue Zukunft aufbauen können, wenn sie sich an
den Hauptquellen des Islam, wie Koran und Hadithe, orientieren und die
religiöse Tradition wissenschaftlich und rational hinterfragen. Im Gegen-
satz zu den Traditionalisten setzen sie sich gründlich mit der religiösen
Tradition auseinander und bieten im Vergleich zu den Reformisten tief-
greifende intellektuelle Perspektiven auf gegenwärtige sozialpolitische,
wissenschaftliche und wirtschaftliche Themen an.
In der Auslegung sakraler Texte (Koran und Sunna) unterscheiden sich die
muslimischen Modernisten voneinander. Einige Modernisten, wie die Ko-
raniten, glauben, dass Gottes Botschaft im Koran klar und vollständig vor-
liegt und dass sie daher vollständig verstanden werden kann, ohne auf Ha-
dithe Bezug zu nehmen, während andere Modernisten wie Nasr Hamid Abu
Zaid (vgl. Kermani 1996), Fazlur Rahman (vgl. Amirpur 2013, 91–116) und
Mouhanad Khorchide (2018) vom historischen Kontext der Texte ausgehen
und behaupten, dass die göttliche Botschaft nicht verstanden werden kann,
ohne ihre Entstehungsgeschichte zu berücksichtigen.
Um die offenkundige Rückständigkeit der muslimischen Welt zu überwin-
den, vertreten sie – im Gegensatz zum Reformislam oder zum Traditiona-
lismus –, ausgehend von islamischen Grundorientierungen und Ressour-
cen, insgesamt ein Weltbild, in dem der Islam mit europäischen Vorstel-
lungen wie Demokratie, Liberalismus und Laizismus harmoniert. Somit
ist ihre Denkweise einerseits authentisch und andererseits europäisch ge-
prägt.
Aufgrund ihrer Aktualität ist die Sichtweise von Mouhanad Khorchide
hier besonders erwähnenswert. Er stellt Dimensionen wie Barmherzig-
keit, Freiheit und Frieden als wahren Kern der Religion in das Zentrum und
kritisiert ein Islambild, das auf Unterwerfung und Unfreiheit setzt. Daher
fordert er eine neue Interpretation der koranischen Schriften aus einer
historischen Perspektive (vgl. Khorchide 2020). Dabei interpretiert er die
Texte des Koran nicht als vollständige Information, sondern als Ereignisse
der Selbstoffenbarung Gottes im Sinne einer Kommunikation, an der sei-
Der Modernismus vertritt ein Weltbild, in dem der Islam mit europäischen
Vorstellungen wie Demokratie, Liberalismus und Laizismus harmoniert.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 4:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 4:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 224
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven