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Adem Aygün | Fundamentalismus im zeitgenössischen islamischen Denken
ne Adressaten auch beteiligt sind. An seine ersten Adressaten richtete sich
der Koran im 7. Jahrhundert auf der Arabischen Halbinsel. Für Khorchide
steht daher der Koran als Schrift in diesem historischen Kontext und sollte
daher auch als ein Buch aus diesem historischen Kontext gelesen werden,
dessen einzelne Gebote nicht mehr wörtlich ins heutige Leben übertragen
werden können. Dennoch blieben die Kernbotschaften der koranischen Of-
fenbarung erhalten und würden die Menschen in allen Zeitepochen in ihren
Lebenserfahrungen herausfordern (vgl. Khorchide 2018).
Die Modernisten gehen davon aus, dass es keine Diskrepanz zwischen
westlichen und islamischen Werten gibt. Das gilt auch für geistige und
wissenschaftliche Erkenntnisse, die außerhalb der islamischen Welt ent-
wickelt wurden. Modernisten setzen sich dafür ein, diese Erkenntnisse in
eine Synthese mit dem Islam zu bringen und die muslimische Identität mit
den Lebensweisen in einem säkularen Staat zu vereinbaren.
Modernistische Ansätze gehen von der gemeinsamen Parole „Überwindung
der Rückständigkeit der muslimischen Welt“ aus. Dennoch unterscheiden
sie sich in ihrer Texthermeneutik, in ihrem Umgang mit der religiösen Tra-
dition oder in ihren politisch-theologischen Positionen voneinander.
Trotz aller Unterschiede kommt es auch häufig zu Übergängen zwischen
den Ansätzen, etwa unter Traditionalisten und Reformisten anhand von
Parolen oder Diskursen wie der „Rückbesinnung auf die wahre Religion“.
Daher ist es schwierig, aus diesen drei Ansätzen, unter denen auch der Sa-
lafismus als eine zeitgenössische Bewegung Platz findet, eine einheitliche
innermuslimische Kritik an und ein gemeinsames Islambild gegenüber
dieser Ideologie herauszufiltern.
Aus der bisherigen Diskussion lässt sich die Erkenntnis ableiten, dass der
Salafismus, der seine begriffliche Entsprechung im christlichen Funda-
mentalismus hat, in seinen unterschiedlichen Ausprägungen und Erschei-
nungsformen mehr mit der gesellschaftlichen Umwandlung der Gegenwart
und deren Prozessen zu tun hat als mit der islamischen Tradition. Der Be-
griff Salafiyya als Definition für eine religiöse Gruppierung entstand erst
im 20. Jahrhundert. Der zeitgenössische Salafismus ist demnach nicht, wie
von seinen Anhängern behauptet, der Vertreter des wahren Islam, sondern
nur eine Projektion, eine Lesart aus der Neuzeit und eine Reaktion auf ge-
sellschaftliche Veränderung.
Der zeitgenössische Salafismus ist eine Projektion,
eine Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 4:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 4:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 224
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven