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Rita Perintfalvi | LGBTIQ-Menschen als Zielscheiben rechtspopulistischer und fundamentalistischer Angriffe
Was hier unter dem Deckmantel des Schutzes des Kindes formuliert wurde,
ist für transsexuelle2 Menschen, die sich oft schon von Kindheit an nicht
mit ihrem angeborenen Geschlecht identifizieren können, äußerst proble-
matisch. Die Geschlechtsidentität bezeichnet die Übereinstimmung der er-
lebten mit der anatomisch-biologischen Geschlechtszugehörigkeit. Sie ist
ein „fester Bewusstseinsinhalt, einem Geschlecht anzugehören“ (Eicher
1992, 17).
Bei Transsexuellen fehlen genau diese Harmonie und Gewissheit. Von Be-
troffenen wird Transsexualität als das erlebte Gefühl beschrieben, sich im
falschen Körper zu befinden. Sie besitzen einen Körper, den sie nicht füh-
len und betrachten wollen, weil er nicht ihrem Empfinden, ihrer Identität
entspricht. Solche Menschen haben den „Wunsch, als Angehöriger des an-
deren Geschlechtes zu leben und anerkannt zu werden. Dieser geht meist
mit Unbehagen oder dem Gefühl der Nichtzugehörigkeit zum eigenen ana-
tomischen Geschlecht einher.“3 Die moderne Medizin spricht von Gender
Incongruence, also von „geschlechtsspezifischer Abweichung“ (ICD-11,
20224). Das bedeutet eine Inkongruenz zwischen biologischer, sexueller
Differenzierung und Geschlechtsidentität. Transsexuelle entsprechen
„chromosomal, anatomisch und hormonal ihren phänotypischen Ge-
schlechtsmerkmalen, empfinden sich aber in ihrer Geschlechtsidentität
eindeutig dem anderen Geschlecht zugehörig und wünschen deshalb,
ihrem psychologischen Geschlecht durch hormonelle und operative Be-
handlung angepasst zu werden“ (Eicher 1992, 17).
Laut DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, American
Psychiatric Association, 2003) geht es bei Transsexualität um ein starkes und
andauerndes Zugehörigkeitsgefühl zum anderen Geschlecht (d. h. nicht le-
diglich um das Verlangen nach eventuellen kulturellen Vorteilen, die als
mit der Zugehörigkeit zum anderen Geschlecht verbunden empfunden
werden). Im DSM V (2013) wurde statt „Transsexualität“ schon die neue
Bezeichnung Gender Dysphorie gewählt, um eine Bewertung darüber, was
‚normal‘ bzw. kongruent ist, zu vermeiden. Die aktuellste Version schließt
somit explizit ein, dass die Geschlechtsrolle außerhalb der Norm der Zwei-
geschlechtlichkeit liegen kann. Die Symptome sind: geäußertes Verlangen
nach Zugehörigkeit zum anderen Geschlecht, häufiges Auftreten als An-
gehörige*r des anderen Geschlechts, das Verlangen, wie ein*e Angehö-
rige*r des anderen Geschlechts zu leben oder behandelt zu werden, oder
die Überzeugung, die typischen Gefühle und Reaktionsweisen des anderen
2 Der Begriff „Transsexualität“
wurde in den Revisionen der Dia-
gnose manuale ICD-10 (World Health
Organisation, 2006) und DSM-IV
(American Psychiatric Association,
2003) durch „Geschlechtsidenti-
tätsstörung“ (Gender Identity Dis-
order) abgelöst. Der Grund dafür
ist die Tatsache, dass der Begriff
„Transsexualität“ das psychologi-
sche bzw. soziale Geschlecht (gen-
der) nicht berücksichtigt.
3 Definition von GID im ICD-10
(World Health Organisation, 2006).
GID steht für Gender Identity Dis-
order. Laut ICD-10 wird die Ge-
schlechtsidentitätsstörung den
„Persönlichkeits- und Verhaltens-
störungen“ zugeordnet, gilt jedoch
im neuen ICD-11 nicht mehr als psy-
chische Krankheit. Da diese Einord-
nung betroffene Personen sehr stig-
matisiert hat, hofft man durch die
Änderung die soziale Akzeptanz von
trans*-Menschen zu erhöhen. Bis
zum ICD-10 wurde Transsexualität
im Bereich der mental and behavi-
oural disorders (also der psychischen
Störungen und Verhaltensstörun-
gen) eingeordnet.
4 Im neuen Katalog der WHO, dem
ICD-11, der 2022 in Kraft tritt, wird
die Diagnose in Gender Incongru-
ence (geschlechtsspezifische Ab-
weichung) geändert. Dafür wird die
Kategorie Sexual Health Conditions
(Zustandsformen sexueller Gesund-
heit) eingeführt (vgl. Moser 2017).
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 4:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 4:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 224
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven