Seite - 27 - in Limina - Grazer theologische Perspektiven, Band 2:2
Bild der Seite - 27 -
Text der Seite - 27 -
28 | www.limina-graz.eu
Irmtraud Fischer | Das Exodus-Paradigma
Alten Testament ein beständig resonantes und daher immer neu zu aktu-
alisierendes Paradigma: Nicht nur aus Ägypten hat Gott sein Volk befreit,
er führt auch zurück aus Exil und Diaspora. Voraussetzung dafür ist immer
eine resonante Gottesbeziehung.
Ein neuer Lebensstil in Freiheit:
Der Exodus als Voraussetzung für die Gabe des Gesetzes
Freiheit bedeutet nicht nur Freisein von etwas, das als beengend oder be-
drängend empfunden wurde, sondern eröffnet im Freisein für etwas neue
Möglichkeiten. Wenn in der Exodusüberlieferung die Risiken der Befreiung
in den Wüstenerzählungen thematisiert werden, so in der Präambel zu den
Zehn Geboten das neu erlangte Potential, einen verantwortungsvollen und
solidarischen Lebensstil zu wählen.13
Lange Zeit der Kirchengeschichte wurde der Dekalog als Gesetzesmoral
der Ge- und Verbote verkündet. Du sollst oder Du sollst nicht wurde – häu-
fig unter Weglassung des Bilderverbots – mit vielen Einzelbestimmungen
insbesondere im Sextum angereichert und damit zu jener schweren Bürde
gemacht, von der Christenmenschen gerne behaupteten, sie sei typisch für
die jüdische Gesetzesfrömmigkeit. Der Text der Hebräischen Bibel setzt je-
doch die Selbstvorstellungsformel an den Anfang jeglicher Anweisung zum
neuen Leben: Ich bin JHWH, der dich herausgeführt hat aus Ägypten! (Ex
20,1; Dtn 5,6) Dogmatisch gesprochen bedeutet dies, dass das befreite Volk
die zuvorkommende Gnade erfahren durfte und dann erst zu einer neu-
en Ethik verpflichtet wird. Immer wieder wurde darauf hingewiesen, dass
die Formulierungen auch futurisch übersetzt werden könnten: Israel wird
nach der Befreiung aus Ägypten das Gebotene tun und das Verbotene nicht
tun. Gott muss seinem Volk das nicht befehlen, es wird die Richtlinien aus
Dankbarkeit für seine Befreiung freiwillig befolgen.14
Der Dekalog steht am Anfang der Gabe aller Gesetze, die im liminalen Raum
zwischen dem Sklavenhaus, aus dem man gerade entkommen ist, und dem
Land, auf das hin man unterwegs ist, gegeben werden. Im Narrativ der Tora
und der anschließenden Vorderen Prophetie bedeutet dies, dass die Leitli-
nien für einen neuen Lebensstil im Land, der allein das Wohnen in ihm auf
13 Den Aspekt der Bewahrung der
Freiheit hat Crüsemann 1989 her-
vorgehoben.
14 So bereits eindrücklich Zenger
1986, 76. Zu Fragen der Forschungs-
geschichte siehe die beinah mono-
graphische Auslegung des Dekalogs
bei Eckhart 2012, 651–769.
Das befreite Volk durfte die zuvorkommende Gnade erfahren
und wird dann erst zu einer neuen Ethik verpflichtet.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 2:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 2:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 267
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven