Seite - 29 - in Limina - Grazer theologische Perspektiven, Band 2:2
Bild der Seite - 29 -
Text der Seite - 29 -
30 | www.limina-graz.eu
Irmtraud Fischer | Das Exodus-Paradigma
beantwortet, lautet: Sklaven waren wir in Ägypten und JHWH hat uns mit
starker Hand und erhobenem Arm herausgeführt (Dtn 6,20–25). Während
andere Völker ihre Herkunft in ein goldenes Zeitalter zurückverlegen, ist
Israels Gründungsätiologie in die Fremde verlegt und in der Rechtlosigkeit
der Versklavten verankert. Zu einer solchen identitätserzeugenden Erzäh-
lung muss man in Anbetracht der großen Gründungsmythen der umlie-
genden Völker erst einmal stehen! Das Selbstverständnis des Gottesvolkes
basiert nicht in der eigenen Stärke und Überlegenheit, sondern in der ret-
tungsbedürftigen Geschöpflichkeit und der Erfahrung der völligen Ent-
rechtung, aus der seine Gottheit es befreit hat.
SklavInnen waren wir ist damit zwar auch ein Outing in Bezug auf Israels
soziale Herkunft, aber noch vielmehr ein Bekenntnis zur Macht seiner
Gottheit, die im Götterkampf mit dem sich vergöttlichenden Pharao über-
legen war.
Befreiung ist kein sicherer Boden:
Zur liminalen Existenz des Menschen und des Theologietreibens
In Zeiten kapitalistischer Selbstoptimierung fällt es Menschen schwer, die
eigene Existenz als verdankt zu begreifen. Die Versuche, menschliches Le-
ben außerhalb des Mutterleibes zu erzeugen, sind zwar nur zu einem nied-
rigen Prozentsatz erfolgreich (was selten kommuniziert wird), aber die
Menschheit bekommt zunehmend das Gefühl, durch eigene Kraft und mit
stählernem Willen alles zu erreichen, was sie nur will. Selbst in der Befrei-
ung von todbringenden Krankheiten hat sie steigenden Erfolg und gegen
den Tod will man neuerdings durch Gefriertechniken wie bei der künstli-
chen Erzeugung des Lebens angehen. Der Machbarkeitsmythos ist in unse-
rer Gesellschaft ungebrochen und die Deutungskategorien für gebrochenes
oder weniger optimales Leben fallen in den Konzepten der Neuen Rechten
wieder hinter jene des Ijobbuches zurück: Wer es nicht schafft, ist zu träge
oder zu wenig selbstbeherrscht, auf alle Fälle schuldig, denn nur der Starke
gewinnt. Die Befreiung von eigener Begrenztheit ist das Ziel von Selbstop-
timierung, mit der der Mensch allerdings zunehmend seine Resonanzfä-
higkeit verliert, da er nur mehr um sich selber kreist.
Israels Gründungsätiologie ist in die Fremde verlegt.
Dazu muss man erst einmal stehen!
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 2:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 2:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 267
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven