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Thomas Söding | Freiheit des Gewissens – Freiheit des Glaubens
je für sich dem Apostel zustimmen müssen und die Entscheidung nicht auf
ein Kollektiv verlagern dürfen.
Sowohl im innerkirchlichen wie im politischen Raum ist das Gewissen für
Paulus eine entscheidende Kategorie der Urteilsbildung in der Freiheit des
Glaubens. Der Apostel erklärt den Begriff nicht, sondern setzt ihn als be-
kannt voraus, und wendet ihn auf grundlegende Fragen der Orientierung
im Glauben an, die strittig sind und ein persönliches Urteil verlangen. Die
Betonung des Gewissens entspricht der Personalität des Glaubens, der Ein-
heit von Ethos und Ritus, der Unterscheidung von Kirche und Staat. Paulus
kennt durchaus ein irrendes Gewissen, das von denen, die es besser wissen,
akzeptiert werden muss; aber er spricht vor allem von einem erkennenden,
einem wissenden Gewissen, das mit dem Selbstbewusstsein der Gläubigen
einhergeht und ihnen einen Orientierungssinn verleiht, auf den sie sich
verlassen können und sollen. Der Apostel jedenfalls erkennt im Gewissen
der Gläubigen eine theologische Instanz, vor der er sich verantworten will
und kann, ohne es dominieren zu wollen.
Das Gewissen der Heiden
Nach Paulus haben nicht nur die Gläubigen, sondern auch die Heiden ein
Gewissen. Von heute aus geurteilt, klingt dies selbstverständlich – aber
nur, weil in der Bibel mit Paulus diese Klarstellung erfolgt ist. Sie spielt die
biblische Schöpfungstheologie in die Anthropologie ein; sie entspricht der
Rede von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen; sie ist mit der stoischen
Philosophie kompatibel, die auch Sklaven ein Gewissen zuspricht; sie zeigt,
dass in den Augen des Apostels die Konversion Menschen nicht zerstört,
sondern in der Begegnung mit Gott zu sich selbst bringt (vgl. Gal 2,19f.).
Im Zweiten Korintherbrief spricht Paulus an einer Stelle auch vom Gewis-
sen derer, die zu Hörern des Wortes werden sollen (2 Kor 4,2): Hier ist das
Gewissen die kommunikative Schnittstelle, die der Apostel weiß, nutzen zu
können, wenn er das Evangelium verkündet. So revolutionär die Botschaft
Paulus erkennt im Gewissen der Gläubigen eine theologische Instanz,
vor der er sich verantworten will und kann, ohne es dominieren zu wollen.
Nicht nur die Gläubigen, sondern auch die Heiden haben ein Gewissen.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 2:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 2:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 267
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven