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Thomas Söding | Freiheit des Gewissens – Freiheit des Glaubens
tum seiner Zeit steht) die Ordnung der Schöpfung expliziert und damit ein
Korrelat zu dem ist, was philosophisch betrachtet „Naturrecht“ genannt
werden kann (differenziert von Frenschkowski 2016).
Paulus formuliert den Zusammenhang so, dass er von Autonomie spricht
(Röm 2,14-16):
„14Wenn die Heiden, die das Gesetz nicht haben, der Natur gemäß tun,
was des Gesetzes ist, sind sie, die das Gesetz nicht haben, sich selbst Ge-
setz (ἑαυτοῖς εἰσιν νόμος). 15Sie weisen auf das Werk des Gesetzes, das
in ihr Herz geschrieben ist, weil ihr Gewissen mit Zeugnis ablegt und
ihre Gedanken einander anklagen und verteidigen 16am Tag, da Gott das
Verborgene der Menschen richtet, gemäß meinem Evangelium, durch
Christus Jesus.“
Paulus denkt in Röm 2 nicht nur eschatologisch, sondern auch schöp-
fungs- und geschichtstheologisch. Er spricht von den Heiden als denen, die
zwar nicht das Geschenk der Tora erhalten haben, aber deshalb doch nicht
orientierungslos sind. Sie sind vielmehr autonom – weil sie ein Gewissen
haben. Es ist ihnen nicht eine fremde Macht, der sie sich fügen müssten;
sie selbst sind es, denen sie folgen sollen. Das Gewissen ist die Stimme ih-
res eigenen Herzens, in dem niemand anderes spricht als sie selbst – und
in ihnen Gott. Was das Gewissen sagt, ist verbindlich, also Gesetz, nomos.
Deshalb ist die Autonomie, von der Paulus schreibt, alles andere als Willkür
oder Laissez-faire. Sie ist vielmehr Selbstbestimmung – nach Kriterien,
die aus dem Menschsein selbst abgeleitet sind.
Die Autonomie, von der Paulus schreibt, ist inhaltlich qualifiziert: durch
die Natur (physis). Paulus verwendet einen philosophisch-theologischen
Begriff, der ein Äquivalent zur Schöpfung ist, aber hier passt, weil der Apo-
stel nicht die Genesis voraussetzen will, wenn er über die Heiden aus den
Völkern spricht. Der Begriff der Natur, den Paulus hat, ist freilich seiner-
seits historisch bedingt, wie die Polemik gegen die Homosexualität zeigt,
die nach Röm 1,16 contra naturam (para physin) sein soll. Aber auch wenn
diese Einschränkung immer wieder übersehen wird und deshalb zu proble-
matischen Konsequenzen in der kirchlichen Sexualethik geführt hat, lässt
sich nicht übersehen, dass Paulus mit der „Natur“ eine normative Größe
einführt, die mit der Berufung zur Gottesebenbildlichkeit der Menschen
Autonomie ist alles andere als Willkür. Sie ist Selbstbestimmung –
nach Kriterien, die aus dem Menschsein selbst abgeleitet sind.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 2:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 2:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 267
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven