Seite - 51 - in Limina - Grazer theologische Perspektiven, Band 2:2
Bild der Seite - 51 -
Text der Seite - 51 -
52 | www.limina-graz.eu
Thomas Söding | Freiheit des Gewissens – Freiheit des Glaubens
Die Anrede „Abba“, die tief im Judentum wurzelt und jesuanisch neu gefüllt
wird (vgl. Mk 14,36), bringt ein tiefes Vertrauen auf Gott zum Ausdruck,
verbunden mit einer tiefen Liebe zu Gott (Navon/Söding 2018). Man kann
erwägen, ob Paulus mit dem ersten Wort das gesamte Vaterunser einspie-
len will, das in seinem aramäischen Original mit „Abba“ begonnen haben
wird. Wenngleich diese Referenz nicht sicher nachgewiesen werden kann,
zeigt allein die Anrede, wie der Dienst Gottes zu verstehen ist, der dem
Dienst an der SĂĽnde entgegensteht. Im Glauben wird der GottesdienstÂ
– im
umfassendsten Sinn des Wortes – gewollt, geliebt und gestaltet, aus eige-
nem Antrieb und aus innerer Ăśberzeugung. Durch das Wirken des Geistes
werden die Gläubigen zu einer Freiheit geführt, die sie nicht spürten, wenn
sie nicht die Möglichkeit hätten, „Abba“ zu rufen. Im Gebet kommen die
Freude des Glaubens, das Selbstbewusstsein der Betenden und die Beru-
fung der Kirche zum Ausdruck.
In der Perspektive des Betens werden Erfahrungen und Entdeckungen der
Freiheit deutlich, die in säkularen Debatten nicht eingeholt werden kön-
nen, für Gläubige aber wesentlich sind. So wie Paulus sie – als Erster in
der christlichen Tradition – entfaltet, stehen sie einer Freiheitsethik der
Gerechtigkeit nicht nur nicht im Weg, sondern beflĂĽgeln sie, so wie umge-
kehrt der Einsatz fĂĽr Gerechtigkeit das Beten inspiriert.
Die hohe Fähigkeit zur Empathie und die große Bereitschaft zur Solidarität
des Betens kommen in der Fortsetzung des Arguments zum Ausdruck, die
gleichfalls die Freiheit des Glaubens anschaulich macht. Paulus spielt die
Spannung von „Schon“ und „Noch nicht“ ein, die seine gesamte Escha-
tologie prägt. Paulus gibt seiner Hoffnung Ausdruck, dass „die Schöpfung
selbst befreit werden wird von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zur
Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes“ (Röm 8,21). Mit der Schöpfung
meint Paulus hier nicht nur die Menschheit, sondern die gesamte Welt,
die Gott erschaffen hat. Die „Vergänglichkeit“ ist die Endlichkeit, der die
Schöpfung nach Vers 20 unterworfen ist – jenseits von Eden (Dochhorn
2017). Alles, was lebt, muss sterben. Alles, was lebt, wird auch leiden. Aber
in allem Leid kann die Hoffnung auf Freude und GlĂĽck wachsen, gerade
dann, wenn Gott Glauben geschenkt wird.
Paulus schreibt, „dass die ganze Schöpfung ächzt und seufzt bis jetzt“ (Röm
8,22). Das Ächzen drückt die Last der Not aus, die sie leidet, das Seufzen
eine Hoffnung, fĂĽr die nichts zu sprechen scheint. Aber Paulus ist im Glau-
FĂĽr Paulus ist Religion der Schrei nach Freiheit.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 2:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 2:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 267
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven