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Thomas Söding | Freiheit des Gewissens – Freiheit des Glaubens
ben überzeugt, dass aller Kreatur eine Hoffnung eingestiftet ist, mit der
Schöpfung – auch wenn sie diese Erwartung nicht zu verstehen, geschwei-
ge denn auszudrücken vermag. Nach Röm 8,19 kennt sie eine „Sehnsucht“,
die darauf aus ist, dass die Söhne und Töchter Gottes offenbar werden. Die
Referenz bilden nicht Mythen von Mutter Erde (so aber Friesen 2017), son-
dern Apokalypsen leidender Gerechter, die Gott wider allen Augenschein
nicht im Stich lassen wird.
Paulus sieht eine Solidarität aller Kreatur, die sich theozentrisch erschließt.
Ihr entspricht die Solidarität der Gläubigen, auf deren Offenbarung als Kin-
der Gottes die Schöpfung harrt, weil sie die Speerspitze der eschatologi-
schen Vollendung ist. Die Gläubigen teilen nicht nur das Leid aller Kreatur
(von der menschlichen Verantwortung für ökologische Katastrophen hatte
Paulus noch keinen Begriff), sondern auch ihre Unfähigkeit, die angemes-
senen Worte zu finden, um den Notschrei als paradoxes Zeugnis der Hoff-
nung zu artikulieren. Allerdings steht ihnen der Geist Gottes bei und lehrt
sie zu beten – mit dem „Abba“, das der Freiheit ihrer Gotteskindschaft
Ausdruck verleiht (Röm 8,26).
In seiner „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ hatte Karl Marx 1844
offenbar Paulus im Sinn, als er schrieb: „Die Religion ist der Seufzer der be-
drängten Kreatur, das Gemüth einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geist-
loser Zustände ist“. Deshalb ist für Marx Religion „Opium des Volkes“. Sie
lähmt den Einsatz für irdische Gerechtigkeit, weil sie auf die Gerechtigkeit
Gottes verweist. Für Paulus aber ist sie der Schrei nach Freiheit, der nüch-
tern und wachsam macht, sensibel für Ungerechtigkeit und selbstbewusst
im Glauben. Die Hoffnung, dass es mit Gott eine Größe im Jenseits gibt, die
jedes Diesseits zu einem Ort der Freiheit werden lassen kann, lähmt nicht
etwa das gesellschaftliche Engagement, sondern stimuliert es – wie der
Zusammenhang zwischen Ethik und Gebet klar zeigt.
Die Freiheit des Betens, die Freiheit der Mündigen, die Freiheit der Leiden-
den, die Hoffnung haben, ist befreite, begnadete, inspirierte Freiheit. Nur
deshalb kann sie beten; nur deshalb kann sie eine Hoffnung auf Erlösung
nicht nur als persönlichen Wunschtraum haben, sondern als Option für die
Zukunft der ganzen Schöpfung.
Die Freiheit des Betens, die Freiheit der Mündigen,
die Freiheit der Leidenden, die Hoffnung haben,
ist befreite, begnadete, inspirierte Freiheit.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 2:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 2:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 267
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven