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Thomas Söding | Freiheit des Gewissens – Freiheit des Glaubens
Die Lösungsperspektive
Die paulinische Theologie der Freiheit, sei es des Gewissens, sei es des
Glaubens, hat eine Form, die in den Theologien der Neuzeit bis weit ins
20. Jahrhundert hinein nicht hinreichend gefüllt, ja, verzerrt worden ist.
Mangelnde ökumenische Gesinnung war ebenso verantwortlich wie anti-
aufklärerisches Ressentiment. Verhängnisvoll war eine Befangenheit in
Weltbildern, die in Stein gemeißelt schienen, aber schnell verblasst sind.
Der Deismus verstellt sich den Blick zur creatio continua, ohne die es kein
eschatologisches Heilshandeln gäbe, von dem aber Paulus überzeugt ist,
so dass ihm ein mechanistischer Naturalismus vollkommen fremd, eine
lebendige Welt, die Gottes Spuren trägt, aber nah ist (Feldmeier/Spie-
ckermann 2018). Die reformierte Prädestinationstheologie engt die Hand-
lungsspielräume von Menschen durch Verweis auf Gottes Prärogative ein,
während bei Paulus die göttliche Vorsehung gerade die Freiheitsräume
der Menschen öffnet (Schrage 2005). Die lutherische Anthropologie ver-
weist zwar auf Paulus, wenn sie im Ungläubigen nur den Sünder und noch
im Gläubigen den simul iustus et peccator entdeckt, unterschätzt darin aber
die Willensfreiheit des Menschen, die durch Gott erschaffen ist, auch nach
Paulus – der freilich, schärfer als der Idealismus, reflektiert, dass und wes-
halb der gute Wille allein noch nicht das Gute bringt (Barclay 2008). Die ka-
tholische Lehre hat im 19. Jahrhundert durchaus zu Recht die Zusammen-
gehörigkeit von „Glaube“ und „Sitten“ betont; sie hat aus Gründen der
Universalisierbarkeit auch eine naturrechtliche Argumentation entwickelt,
die mit den aufkommenden Natur- und Rechtswissenschaften kompatibel
sein sollte; aber sie hat einen ungeschichtlichen Naturbegriff zugrundege-
legt und sich in ihrer Berufung auf Paulus nicht historisch-kritisch orien-
tiert und deshalb geschichtliche Bedingungen seiner Positionen nicht me-
thodisch von gültigen Ansprüchen unterschieden, obgleich sie theoretisch
dazu in der Lage gewesen wäre. Das Ergebnis war – und ist teilweise noch
–
ein moralischer Paternalismus, der so ziemlich das genaue Gegenteil der
paulinischen Freiheitstheologie ist.
Wenn ohne jede hermeneutische Nostalgie, vielmehr in problemorientier-
ter Schriftauslegung das paulinische Zeugnis über die Freiheit von Gewissen
und Glaube neu zur Diskussion gestellt wird, dann nicht in der Erwartung,
Das Potential der paulinischen Freiheitstheologie
ist längst nicht ausgeschöpft.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 2:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 2:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 267
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven