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Gunda Werner | Freiheit und Sünde
warum das Böse die oberste Maxime verdirbt. Wenn aber die Sünde einmal
in der Welt ist, einmal die Maxime verdorben hat, dann folgt alles andere
daraus. Kant nennt diese Folge dann peccatum derivatum, dieses ist dann
auch als gesetzeswidrige Tat empirisch und in der Zeit gegeben (RGV, B 26,
A 23/24) und damit wahrnehmbar. Sie ist wirklich überall. Hier aber hat
Kant die Trennlinie zur traditionellen Erbsündenlehre und mit ihr, und
das interessiert hier am meisten, zur Freiheitsvorstellung gelegt. Denn der
Ursprung des Bösen ist von Kant konsequent in das Selbstverhältnis des
Menschen gelegt worden. Es ist die freie und je persönliche Entscheidung
des Menschen, Böses zu tun. Damit hat aber die Denkbarkeit des Bösen kei-
nerlei schöpfungstheologische oder historische Bezüge, sondern die Sünde
stellt sich im Selbstvollzug des Menschen ein. Wenngleich die theologische
Begrifflichkeit zu einer theologischen Deutung verführt, ist für Kant das
Interesse in einer Vernunfterklärung des Bösen Ziel seiner philosophischen
Rekonstruktion des Gedankens eines peccatum originale. Denn dieses ist
eben als innere Möglichkeit zu denken, dass alle Menschen Sünder sind.
Der Ursprung des Bösen also ist in das Selbstverhältnis des Menschen hin-
eingelegt, deswegen kann gedacht werden, dass der Mensch vom Ursprung
aus affiziert ist. „Wir müssen aber von einer moralischen Beschaffenheit,
die uns soll zugerechnet werden, keinen Zeitursprung suchen […].“ (RGV,
B 46, A 42) Gleichwohl ist die Unbegreiflichkeit, „[d]aß wir es täglich eben-
so machen“ (RGV, B 45; A 42), unerforschlich. „[…] und doch ist die ur-
sprüngliche Anlage (die auch kein anderer als der Mensch selbst verderben
konnte, wenn diese Korruption ihm soll angerechnet werden) eine Anlage
zum Guten; für uns ist also kein begreiflicher Grund da, woher das mo-
ralisch Böse in uns zuerst gekommen sein könne.“ (RGV, B 46, 47; A 43)
Ob nun das Verführende zum Bösen als Kraft oder Macht im Menschen
oder außerhalb von ihm gedacht wird, hat daher auch keine Bewandtnis;
die Schuld trifft uns, „als die wir von ihm nicht verführet werden würden,
wenn wir mit ihm nicht im geheimen Einverständnisse wären“ (RGV, B 73;
A 67). Kants Reflexionen brechen an dieser Stelle ab, er kann aber die Frei-
heit des Menschen aufrechterhalten, auch und gerade in den gesetzeswid-
rigen Taten.
Die Emphase, mit der Immanuel Kant für die Freiheit eintritt und mit ihr
zugleich die Freiheit des Willens rehabilitiert, steht in einem unmittel-
Ob das Verführende zum Bösen als Macht im Menschen oder außerhalb
von ihm gedacht wird, hat keine Bewandtnis. Die Schuld trifft uns.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 2:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 2:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 267
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven