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Gunda Werner | Freiheit und Sünde
2004) Deswegen war es für die Theologie notwendig, so Holzem, sich nach
den radikalen Veränderungen einerseits „mit der massiven Bestreitung
des Christentums und seiner Vergesellschaftung“ auseinanderzusetzen
und andererseits die „existentielle Bedeutung des Christlichen als eine
solche [zu erweisen, GW], die nicht mehr im reichspolitischen Weltbezug
des Christen wurzelte, sondern in seinem Selbstbezug als Gottesgeschöpf“
(Holzem 2013, 18).
Die Antwort der katholischen Theologie auf diese Herausforderungen ist
ausgesprochen paradox. Denn es gibt einerseits das Projekt einer spezi-
fisch katholischen Aufklärung. (Lehner 2016; auch Essen 2012a) Exem-
plarisch steht hierfür die neu gegründete Fakultät in Tübingen, ebenso aber
auch Georg Hermes in Bonn oder Anton Günther. (Vgl. Fries/Finsterhölzl
1969–1976; Fries/Schwaiger 1975) Allerdings verschärfen sich die theo-
logischen Auseinandersetzungen bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zu
einem Richtungsstreit, in dem bald nur noch in sogenannte „römische“
und „deutsche“ Theologen unterscheiden wird, der der ultramontanen
und damit theologisch der neuscholastischen auf der einen und der an der
Philosophie der Aufklärung und weiterer wissenschaftlicher Entwicklung,
allen voran der Geschichte und ihrer historisch-kritischen Methoden inte-
ressierten auf der anderen Seite. Dass sich dieser Richtungsstreit letztlich
in eine Richtung, die neuscholastische, entscheiden wird, ist wohl ebenso
historisch bedingt wie kontingent und konsequenzenreich bis heute. (Vgl.
Wolf 2010; Werner 2010; Werner 2017a )
Im Kern, und deswegen interessiert diese Situation in einer theologie-
geschichtlichen Rekonstruktion zum Thema Freiheit und Sünde, geht es
in dem theologischen Richtungsstreit um die Denkform der Freiheit und
des selbstbestimmten Denkens und Handelns, also der Autonomie. Diese
Auseinandersetzung ist mit Symboldaten zu umreißen, so 1791 die Verur-
teilung der französischen Menschenrechtserklärung in ihrem Eintreten
für Religions- und Pressefreiheit von Papst Pius VI. als „wahre Ungeheu-
erlichkeit“10. Gefolgt wird diese Verurteilung von weiteren Verurteilungen
der Gewissensfreiheit, von Meinungen und Theologen bis zu ihrem Höhe-
punkt, dem sogenannten Antimodernisteneid 1907.11
Nervöses Zentrum dieser Gegenreaktionen ist die Vorstellung, der Mensch
könne von sich aus, also autonom, entscheiden und bräuchte dafür die ins-
titutionelle Orientierung der römisch-katholischen Kirche letztlich in kei-
10 So im Breve Quod Aliquantum von
1791 (DH 2663).
11 So die Verurteilung der Gewis-
sensfreiheit in der Enzyklika Mirari
Vos vom 15. August 1832 von Papst
Gregor XVI (DH 2730f.); ebenso die
Enzyklika Quanta Cura von Pius IX
vom 8. Dezember 1864 (DH 2893f)
mit der Verurteilung der Religions-
freiheit sowie der Trennung von Kir-
che und Staat. Im Anhang findet sich
der Syllabus mit den Irrtümern der
Moderne (DH 290–2980); im Dekret
Lamentabili Sane Exitu vom 3. Juli
1907 wurde der aktualisierte Sylla-
bus mit den sogenannten Irrtümern
der Moderne vorgelegt (DH 3401–
3466), in der Enzyklika Pascendi Do-
minici Gregis vom 8. September 1907
wurden die Irrtümer der Modernis-
ten wiederholt (DH 3475–3500).
Die Antwort der katholischen Theologie ist ausgesprochen paradox.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 2:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 2:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 267
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven