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Gunda Werner | Freiheit und Sünde
halte, ist deutlich geworden. Allerdings bleibt in der römisch-katholischen
Fassung der Gewissensfreiheit, wie sie in der konzilsinternen Spannung
zu finden ist, ein gewisses Unbehagen offen. Wäre das Konzil nämlich eine
nachholende Selbstmodernisierung der römisch-katholischen Kirche, die
Karl Gabriel annimmt, dann hätte dies vor allem im Verständnis der Frei-
heit große Folgen. Denn eine nachholende Modernisierung käme nicht um-
hin, die Autonomie des Gewissens und seiner Freiheit in die interne Debat-
te aufzunehmen. Denn im Unterschied zu den beschriebenen Formen des
theonomen oder ekklesionomen Gewissens ist als ein autonomes Gewissen
jenes zu verstehen, das sich in der Begründung einer Entscheidung auf ver-
nunftgeleitete und -gestützte Kriterien beruft, die nicht auf eine transzen-
dente Größe, sondern rein auf die operative Gestalt der Vernunft zurück-
zuführen sind. Gewissen ist deswegen für Immanuel Kant „das Bewußtsein
eines inneren Gerichtshofes im Menschen (‚vor welchem sich seine Ge-
danken einander verklagen und entschuldigen‘)“ (GMS, A 99). Nicht mehr
also Gott übernimmt den Ankläger und Richter zugleich, sondern es ist der
Mensch selbst, der sich vor dem Forum der Vernunft richtet. Die Selbstbin-
dung der Vernunft an das Sittengesetz selbst wird zum Grundverständnis
der Autonomie und dezentralisiert die theologische Annahme, der Mensch
sei zuallererst an Gott gebunden.
Damit ist allerdings nicht ausgesagt, dass der Mensch sich nicht an Gott
binden könne, nur unkritisch kann er es nicht mehr tun. Die Entscheidung
der Selbstbindung der Vernunft geht also von der Vernunft aus und wird
von ihr verantwortet. So sehr bereits diese beiden Formen des Gewissens,
also das theonome und das ekklesionome, in ihrer Begründung in einer im-
mensen Spannung stehen, können sie doch in der grundsätzlichen Bedeu-
tung des Gewissens als letzte Instanz in seiner Religionsformung ähnlich
verstanden werden. Erst die autonome Fassung des Gewissens und damit
die Autonomie des Subjekts legt aber die Dynamiken offen, die den kog-
nitiven Dissonanzen zugrunde gelegt sind, die sich in Lebensformen und
Entscheidungen (post-/spät-)moderner Menschen niederschlagen.
Die Frage, wie also jemand in einer Demokratie seine Entscheidung an der
Verfassung eines modernen Staates und den Allgemeinen Menschenrech-
ten sowie eben den Grundsätzen des eigenen Gewissens treffen können darf
und soll und zugleich als katholischeR ChristIn stets nur in Übereinstim-
Vertretenden einer republikanischen
Freiheit ihren Begriff als Freiheit,
die von Willkür und Beherrschung
unabhängig ist (242–243). Hingegen
unterstreichen die feministischen
Entwürfe, dass die Einschränkungen
von Freiheit für Frauen noch einmal
spezifisch diskutiert werden müssen
(243–244). Den autonomen Frei-
heitsbegriff stelle ich in den Mit-
telpunkt, daher ist er nicht weiter
ausgeführt.
Damit ist nicht ausgesagt, dass der Mensch sich nicht an Gott binden könne.
Nur unkritisch kann er es nicht mehr tun.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 2:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 2:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 267
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven