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Reinhold Esterbauer | Zwischen Hoffnung und Gewalt
Wenn man mit dem Titel dieser Ausgabe nach dem Phantom der Freiheit
fragt, so ist es unumgänglich, sich zunächst Klarheit darüber zu verschaf-
fen, was der Begriff des Phantoms genauer bedeutet. Im Zusammenhang
ontologischer Problemstellungen markiert „Phantom“ eine schwierige
Doppelstellung. Etwas ist weder das eine allein noch das andere allein,
wohl aber beides zugleich. Geht es um seinen Wirklichkeitscharakter, so
oszilliert ein Phantom zwischen etwas und nichts. Schon Günther An-
ders hat im ersten Band seines 1956 erschienenen Hauptwerkes Die Anti-
quiertheit des Menschen mit dem Untertitel Über die Seele im Zeitalter der
zweiten industriellen Revolution den Begriff des Phantoms dazu verwendet,
ein „Zwischending zwischen Sein und Schein“ (Anders 2002, 133) zu be-
nennen. Er beschreibt mit der Bestimmung „Phantom“ Inhalte, die über
Massenmedien verbreitet werden. Seiner Meinung nach „schweben“ die-
se zwischen Wirklichkeit und Virtualität. Vergleichbar mit dem Phantom-
schmerz einer abgetrennten Gliedmaße, die, obwohl sie nicht mehr da ist,
als Ausgangspunkt für Schmerz erlebt wird, befindet sich das medial ver-
mittelte Bild nach Anders in einer „ontologische[n] Zweideutigkeit“ und
changiert zwischen „gegenwärtig und abwesend“ sowie zwischen „wirk-
lich und scheinbar“ (Anders 2002, 131).
Werden Phantome bewusst produziert und hergestellt, so kommt zur onto-
logischen Zweideutigkeit eine moralische Eindeutigkeit hinzu, die mit jener
verzahnt ist: Phantome dienen dann der bewussten Täuschung. (Anders
2002, 170) Ihre ontologische Zweideutigkeit wird verdeckt, sodass das
Vorgestellte als eindeutig Wirkliches erscheint, die Verflechtung von Sein
und Schein verliert alles Doppeldeutige zugunsten bloß scheinbarer, aber
als wirklich vorgetäuschter Realität. Scheinbares wird als Wirkliches aus-
gegeben.
Nun ist der ontologische Status des Phantoms Freiheit kaum bestimmbar,
weil die Ausarbeitung einer Ontologie der Freiheit eine besondere Schwie-
rigkeit, wenn nicht Unmöglichkeit darstellt, wohl aber wird nach langer
Tradition gleichsam selbstverständlicher Akzeptanz – mit der Ausnah-
me deterministischer Ansätze – heute zunehmend bestritten, dass es
menschliche Freiheit überhaupt gebe. Neurobiologinnen und Neurobiolo-
gen interpretieren die Experimente von Benjamin Libet (Libet 2005), der
die Entdeckung des „Bereitschaftspotentials“ durch Hans H. Kornhuber
Nach langer Tradition gleichsam selbstverständlicher Akzeptanz wird heute
zunehmend bestritten, dass es menschliche Freiheit überhaupt gebe.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 2:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 2:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 267
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven