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Reinhold Esterbauer | Zwischen Hoffnung und Gewalt
horizont über den Tod hinaus: Die Folgen meines Handelns enden nicht im
eigenen Tod; und die Zeit nach meinem Tod ragt in den Spielraum meines
Handelns herein. Der Tod ist zwar die nicht hintergehbare Grenze meines
Handelns, aber nicht die Grenze meiner Freiheit, aus der ich handle. Das
bedeutet, dass die Ganzheit meiner Biografie – anders als es Heideggers
Ausführungen über das Vorlaufen zum Tod zunächst nahe zu legen schie-
nen – auch im Tod nicht erreicht wird. Die jeweilige biografische Identität
ist im Sterben nicht vollendet. Es erweist sich erst nach dem Tod, wer je-
mand war oder bleiben wird.
Eine solche Gestalt zeitlicher Offenheit scheint mir ein wesentliches
Moment religiöser Freiheit zu sein. Religiöse Freiheit kennt einerseits den
Tod als absolute Grenze nicht, kann sich andererseits aber auch nicht von
der Konkretheit gegenwärtiger Entscheidungen lösen. Das heißt, dass sie
im weiteren Sinn immer politisch ist, allerdings in einer besonderen Form,
weil sie das eigene Leben und damit das der Gesellschaft mitgestaltet,
darin aber zugleich vorläufig bleibt. Diese Ambivalenz ist ihr eigentüm-
lich und kann nicht aus eigenen Stücken überwunden werden. Mir scheint,
dass gerade dann, wenn versucht wird, ihre Doppeldeutigkeit aufzuheben,
Schwierigkeiten religiöser Freiheit beginnen. Im Übrigen ist damit nicht
behauptet, dass die beschriebene Ambivalenz ausschließlich für religiöse
Freiheit spezifisch wäre, wohl aber, dass diese nicht ohne jene auskommt.
Schwierigkeiten religiöser Freiheit
Trifft diese vorläufige Bestimmung von Freiheit zu, so ist leicht einzuse-
hen, warum das Konzept einer Entscheidung durch das Gehirn, wie es die
oben vorgestellten neurobiologischen Thesen vorschlagen, zu kurz greift.
Abgesehen davon, dass Freiheit geleugnet werden soll, sich aber gleichsam
durch die Hintertür als Voraussetzung für eine „Entscheidung“ durch das
Gehirn wieder einschleicht, fehlte einer solchen „Freiheit“ gerade die Am-
bivalenz zwischen Gegenwarts- und Zukunftsbezug. Denn wenn man den
Menschen als Gehirn und dieses als Informationsspeicher versteht, geht
es im Kausalsystem Gehirn vor allem darum, abgespeicherte Erfahrungen
als vergangene Muster zu reaktivieren, mit deren Hilfe „eine Entscheidung
getroffen“ werden soll. Freiheit ohne den Möglichkeitsraum, der sich als
Zukunft eröffnet, kann nicht rechtens Freiheit heißen und eine Entschei-
dung ohne Freiheit auch nicht Entscheidung. Mit solchen Überlegungen ist
im Übrigen die Frage nach der Grenze des Todes noch gar nicht berührt. Das
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 2:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 2:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 267
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven