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Hildegard Wustmans | Missbrauch – die Verspottung der Freiheit
kam eine Theologin zu Wort, die auch eine von spirituellem und sexuellem
Missbrauch Betroffene ist. Nach einem ersten Statement wurden die Teil-
nehmenden eingeladen, sich in Arbeitsgruppen darüber auszutauschen,
wo sie in ihrem Leben Formen von Missbrauch begegnet sind, möglicher-
weise selbst in der Ausbildung Missbrauch erfahren haben oder von an-
deren darüber in Kenntnis gesetzt worden sind. Zugleich sollten sie sich
damit auseinandersetzen, was aus Missbrauch und Abhängigkeit befreien
kann. Auffallend war in dem Austausch, dass die Ressourcen für einen Aus-
stieg aus dem „Fadenkreuz des Missbrauchs“ (Kluitmann 2018, 29) schnell
formuliert waren: tragende Beziehungen, Wissen (kirchenrechtlich, theo-
logisch, historisch, literarisch etc.), Handlungsspielräume (z. B. finanzi-
elle Ressourcen, eine Ausbildung haben). Nachdem quasi die zweite Fra-
ge bearbeitet war, näherten sich die Teilnehmenden der ersten Frage. Der
Beginn war tastend, vorsichtig, aber am Ende reichte die Zeit nicht. Ver-
schüttete Erfahrungen blitzten auf und diese wurden aufgrund des zuvor
Gehörten und Besprochenen neu betrachtet. Dabei wurde mit Erschrecken
deutlich, dass eine nicht unerhebliche Anzahl unter den Anwesenden schon
einmal in der eigenen Biografie mit spirituellem Missbrauch in Berührung
gekommen war. Und es zeigte sich in der Auseinandersetzung, was Doris
Wagner als erste öffentlich ins Wort gebracht hat, dass vielen Menschen
in den Kontexten von Kirche gar nicht bewusst ist, spirituell missbraucht
worden zu sein. (Vgl. Wagner 2019a, 172)
Input und Austausch erwiesen sich als hilfreich, weil sie zur Einordnung
von Erfahrungen eine Systematik bereitstellten. Was verschüttet, mit Ge-
fühlen des Unwohlseins behaftet war, erwies sich mit einem Mal als „rich-
tige“ Wahrnehmung von etwas, das nicht „normal“ war.
Im Rahmen von kirchlichen Jugendgruppen und/oder in der Ausbildung
öffneten Spiritualität und geistliche Begleiter*innen nicht immer Perspek-
tiven, die frei machten, sondern die Not beinhalteten. Es wurde auf einmal
deutlich, dass die angebotene Spiritualität sich nicht als Baustein für eine
positive und bejahende Lebenseinstellung und Lebensbewältigung erwies,
sondern in Unfreiheit und seelische Not führte. Die zunächst positiv er-
fahrene nahe Beziehung, in der Raum für Suchen, Fragen, Vergewissern,
Orientieren usw. war, wurde langsam, nahezu unmerklich, zu etwas Ein-
grenzendem und Manipulativem. Dieser Prozess wurde gerade deswegen
Vielen Betroffenen ist gar nicht bewusst,
spirituell missbraucht worden zu sein.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 2:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 2:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 267
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven