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Georg Gasser | „I0I00I0II ... Ich, digital?“
Einschnitt unter identitätstheoretischer Rücksicht nicht weiter auswirkt,
weil das betroffene Individuum als menschlicher Organismus weiterexis-
tiert. Ob menschlicher Fötus, erwachsene Person oder dementer Patient –
so unterschiedlich sich die jeweiligen Lebensformen in diesen verschie-
denen möglichen Stadien menschlichen Daseins auch darstellen – es eint
sie alle die Tatsache, dass jeweils ein menschlicher Organismus vorliegt,
dessen lebenserhaltende Prozesse durch die Zeit hindurch aufrechterhal-
ten bleiben.
Es sei an dieser Stelle noch auf eine dritte Option hingewiesen, die besagt,
dass unsere Identität in der Zeit in einer Relation sui generis besteht, die von
psychologisch oder biologisch bestimmbaren Prozessen zu unterscheiden
ist. Wenn wir wesentlich weder psychologisch bestimmbare Personen noch
biologisch bestimmbare Organismen sind, sondern z. B. immaterielle See-
len (vgl. Swinburne 1984) oder durch eine individuelle Erste-Person-Per-
spektive konstituierte Subjekte der Erfahrung (vgl. Nida-RĂĽmelin 2012), so
lässt sich unsere Identität in der Zeit nicht auf wie auch immer beschreib-
bare Bedingungen zurĂĽckfĂĽhren.
Bislang wurde ohne nähere Spezifikation von „Identität in der Zeit“ ge-
sprochen. Zu unterscheiden ist allerdings zwischen numerischer bzw. strikter
Identität in der Zeit und Kontinuität in der Zeit. Strikte Identität besagt, dass
ein- und derselbe Gegenstand in der Zeit besteht, wenngleich bestimm-
te qualitative Veränderungen an diesem Gegenstand vorkommen können.
Angenommen, das, was mich als Person ausmacht, wird durch meine indi-
viduelle und unverwechselbare Erste-Person-Perspektive konstituiert, so
bin ich solange ein- und dieselbe Person, solange ich dieselbe Erste-Per-
son-Perspektive habe, wenngleich ich mich im Hinblick auf meine sons-
tigen psychischen und physischen Eigenschaften verändere – etwa weil
ich meinen jugendlichen Jähzorn abgelegt und mir Altersmilde antrainiert
habe oder mein braunes Haar im Laufe der Jahre einen grauen Schimmer
angenommen hat.
Im Unterschied zu „strikter Identität in der Zeit“ besagt „Kontinuität in
der Zeit“, dass sich ein Individuum nicht als numerisch identisch in der
Zeit durchhalten muss, sondern zwischen verschiedenen Individuen eine
Beziehung der Kontinuität bestehen kann. Kontinuität unterliegt nicht der
Logik der Eindeutigkeit, d. h. Identität ist nicht entweder gegeben oder
Es ist zu unterscheiden zwischen „strikter Identität in der Zeit“
und „Kontinuität in der Zeit“.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 3:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 3:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 270
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven