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Georg Gasser | „I0I00I0II ... Ich, digital?“
ob jemand noch weiterexistiert oder nicht mehr weiterexistiert. Dennoch
ist die Schlussfolgerung Parfits, dass eine eindeutige Zuordnung zwischen
einem Individuum vor und den Individuen nach dem Teilungsszenario
weder möglich noch überaus bedeutend ist, keinesfalls zwingend, wie die
Überlegungen im nächsten Abschnitt zeigen werden: Parfit und Konsor-
ten mag dahingehend zugestimmt werden, dass die Relation der Identität
in diesen speziellen Fällen keine eindeutigen Antworten zu geben vermag,
aber dies impliziert noch nicht, dass auch die Einheitlichkeit unserer Le-
bensperspektive, die meist mit Identität assoziiert wird, sich für uns als
unbedeutend erweist.
Identität, Kontinuität und personale Einheit
Die Frage, ob unter metaphysischer Rücksicht Identität oder Kontinuität
vorliegt, mag als vornehmlich theoretische Debatte erachtet werden, die
für unsere bewusst-praktischen Lebensvollzüge von nachrangiger Bedeu-
tung ist. Die folgenden Überlegungen sprechen für diese Annahme.
Erstens: Wenn strikte Identität als metaphysische Relation sui generis auf-
gefasst wird, die von psychologisch und physikalisch bestimmbaren Phä-
nomenen zu unterscheiden ist, dann erweist sie sich – wie Nida-Rüme-
lin betont – als nicht beschreibbar („non-descriptive“). Die Folge dieser
Nicht-Beschreibbarkeit besteht in dem, was ich als „Problem des fehlen-
den Zugriffs“ bezeichne: Wir haben keine Möglichkeit, auf die identitäts-
konstituierende Relation zuzugreifen, um sie für unser Verständnis unse-
rer Identität in der Zeit nutzbar zu machen.
Zweitens: Das Problem des fehlenden Zugriffs begegnet uns auch auf der
phänomenologischen Ebene. Selbst wenn ein individueller und unver-
wechselbarer phänomenologischer Aspekt der „Meinigkeit“ (vgl. dazu Za-
havi/Kriegel 2015) angenommen würde, der z. B. jede Erste-Person-Per-
spektive kennzeichnet und von allen anderen Erste-Person-Perspektiven
unterscheidet, so haben wir erneut keine Möglichkeit festzustellen, ob die
„Meinigkeit“ meiner heutigen Perspektive mit der „Meinigkeit“ meiner
gestrigen Erste-Person-Perspektive übereinstimmt. Feststellen kann ich
nur, dass ich jetzt epistemisch gute Gründe für die Annahme habe, derselbe
wie gestern zu sein, da ich keine wesentlichen phänomenologischen oder
sonstigen Veränderungen in meinem Empfinden feststelle und mich klar
erinnere, gestern Verschiedenes erlebt und getan zu haben. Dies bedeutet,
dass ich mir jetzt Vergangenes aufgrund aktueller Erinnerungen zuschreibe.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 3:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 3:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 270
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven