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Georg Gasser | „I0I00I0II ... Ich, digital?“
andauernd neue Zellen gebildet und alte ersetzt werden oder existierende
Zellverbände neue Verbindungen eingehen. Der menschliche Organismus
ist kein statisches Gebilde, sondern ein permanent im Wandel begriffenes
dynamisches System. Dennoch scheinen die funktionalen Strukturen des
Bewusstseins trotz dieser physiologischen Veränderungen (auf relevante
Weise) identisch zu bleiben, da sich diese Veränderungen im Bewusstsein
nicht weiter auswirken. Wäre der qualitative Aspekt des Bewusstseins aber
an die konkrete materielle Realisierung gebunden, so würden die laufen-
den Veränderungen derselben naheliegender Weise einen entsprechenden
Niederschlag im phänomenalen Bewusstsein zur Folge haben. Da wir einen
solchen qualitativen Niederschlag offenbar aber nicht bewusst erfahren,
kann davon ausgegangen werden, dass er auch nicht stattfindet. Wenn
der laufende Austausch biologischer Bestandteile eines Organismus den
phänomenalen Aspekt seines Bewusstseins nicht ändert, dann kann dar-
auf geschlossen werden, dass dies vermutlich bei einer Ersetzung biologi-
scher durch künstliche Bestandteile auch nicht der Fall sein wird. Solan-
ge die funktionale Organisation des Bewusstseins gewahrt bleibt, dürften
sich weder der kognitive noch der phänomenale Aspekt des Bewusstseins
merklich verändern, unabhängig davon, ob diese Organisation biologisch,
in Silizium oder in einem anderen künstlichen Substrat realisiert ist (vgl.
Chalmers 2010, 48).
Diese funktionalistische Deutung des Bewusstseins ist aber nicht ohne Kri-
tik geblieben. Zahlreiche Bewusstseinstheoretiker weisen ein solches Mo-
dell gerade auch im Lichte unseres sonstigen Wissens über die Wirklichkeit
als grundlegend verfehlt zurück.
So kennen wir derzeit keine Formen von Bewusstsein, die nicht in Lebewe-
sen, also biologisch, realisiert sind. Wenngleich Bewusstsein in verschie-
dener Rücksicht als ein rätselhaftes Phänomen erscheinen mag (vgl. Brün-
trup 2008, 134–136), so scheint es nicht abwegig zu sein, es in Anlehnung
an Aristoteles als biologisches Phänomen zu bestimmen, das in Kontinuität
zu anderen biologischen Prozessen steht (siehe z. B. Quitterer 2010). Da mit
zunehmender Komplexität sich die unterschiedlichen Lebensvollzüge er-
weitern, lässt sich Bewusstsein als Ausdruck dieser Lebensvollzüge deuten,
wobei dieses im Menschen seine bisher höchste Komplexitätsstufe erreicht
hat. Bewusstsein ist demgemäß als ein natürliches Phänomen zu bestim-
Bewusstsein ist als natürliches Phänomen zu bestimmen,
das in Kontinuität zu anderen Lebensprozessen steht.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 3:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 3:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 270
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven