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Herbert Hrachovec | Omnipräsenz / Telepräsenz
„Kurz gesagt, die Vernetzung der Computer gibt die Antwort auf unser
tiefes psychologisches Verlangen nach Transzendenz [...], den Wunsch,
außerhalb des Körpers zu sein, des Geistes, die Grenzen von Zeit und
Raum zu überwinden, eine Art bio technologische Theologie.“ (Ascott
1989, 100)
Solche Elogen klingen veraltet. Mittlerweile lassen sich die Implikatio-
nen der steuerungstechnisch herbeigeführten Telepräsenz nüchterner
betrachten. Dazu muss untersucht werden, welche Bedeutungsverschie-
bungen und -ergänzungen die digitalen Innovationen im herkömmlichen
sprachlichen Inventar bewirken. Zwei Punkte sind hervorzuheben, der eine
erkenntnistheoretischer Natur, der andere betreffend den aus der Scholas-
tik bekannten Terminus „Virtualität“, der im gegenwärtigen Kontext eine
neue Funktion übernimmt. Wissen über die Welt, das ist der Tenor der tra-
ditionellen Erkenntnislehre, erlangen Personen durch Umgebungseindrü-
cke, die sie verarbeiten und in diskursiven Zusammenhängen darstellen.
Behauptungen und die empirischen Belege für ihre Vertretbarkeit standen
in einem Naheverhältnis. Das hat sich im Zeitalter der weltweiten Daten-
übertragung dramatisch geändert. Eine Protestkundgebung in Australien
kann „an alle Orte“ der Erde live übertragen werden. Die menschlichen
Sinnesorgane scheinen mit technischer Hilfe überall hin erweiterbar. Am
Übertragungsgerät sind Vorgänge zu hören und zu sehen, deren Auftreten
global mit Lichtgeschwindigkeit verbreitet wird. Die Weltöffentlichkeit ist
(im Prinzip) gleichzeitig zugeschaltet. Doch dabei fehlt die Hälfte, Geruch
und Tastsinn sind nicht auf diese Weise transportabel, so wenig wie die
Körper der ZuseherInnen generell. Für die Summe der Personen, die an der
Live-Übertragung teilnehmen, ist am Demonstrationsort kein Platz.
Gesucht ist eine Bezeichnung für die eigenartige Befindlichkeit, in welcher
die audio-visuelle Wahrnehmung und auch die Fähigkeit, mit ihren In-
formationen interagieren zu können, alle lokalen Schranken übersteigt –
ohne dass das betreffende Körperwesen seinen angestammten Ort verlässt.
Der einschlägige Terminus ist die erwähnte „Virtualität“. Er steht für einen
schillernden Begriff aus dem semantischen Cluster von vir, virtus, virtualis:
Mann, Mannhaftigkeit, Tauglichkeit, Wirkkraft. In der Scholastik diente er
zur Bezeichnung der in Lebewesen angelegten inneren Dynamik. Der Aus-
Die menschlichen Sinnesorgane scheinen mit
technischer Hilfe überall hin erweiterbar.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 3:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 3:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 270
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven