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Christian Wessely | Wie spricht ein Geist zum anderen Geist?
traut unwillkürlich primär auf „das Gute“, und zwar in der überwiegenden
Mehrzahl der Interaktionen des Alltags (von pathologischen Ausnahmen14
einmal abgesehen).
Mit dem Vertrauen ist nun die Wahrheitsfrage eng verbunden. Das ver-
trauende Subjekt braucht einen Grundbegriff von Wahrhaftigkeit, der un-
mittelbar einleuchtend und lebenspraktisch verbindlich ist. Auch wenn die
Wahrheitsbegriffe im wissenschaftstheoretischen Kontext vielfältig sind,
wird hier zunächst und wohl als einzige befriedigende Alternative ein kor-
respondenztheoretischer Ansatz sinngerecht eingesetzt werden können.
Es geht schließlich im Kontext des Vertrauens um eine entscheidende Vo-
raussetzung, dass nämlich das vertrauende Subjekt in der situativen Ge-
gebenheit eines Entscheidungsmoments die existenzielle Überzeugung
gewinnen muss, dass die tatsächliche Handlung dessen, dem sie vertraut,
so-und-nicht-anders sein wird, dass also „Ankündigung“ (explizit in der
Situation oder implizit durch das, was Luhmann [2014, 37] als „Kredit“ be-
zeichnet) und „Ausführung“ korrespondieren.15
Wenn Vertrauen enttäuscht wird (besser: wenn sich das vertrauende Sub-
jekt über die Wahrheit getäuscht sieht), entsteht daraus ein Schaden. Der
Vertrauensverlust ist in der Regel schwer bezifferbar, wenn er auf der In-
dividualebene betrachtet wird. Dennoch kann er so kritisch werden, dass
er sogar im Rechtssystem Beachtung findet.16 Unzweifelhaft ist auch Kre-
ditschädigung für ein Unternehmen oder eine Institution ein Angriff, der
existenziell bedrohlich werden kann.17
Nun herrscht im Kontext der fortschreitenden Digitalisierung, insbeson-
dere wenn sie – wie es unvermeidlich ist – mit den Ansätzen von Künstli-
cher Intelligenz (KI) verbunden wird, ein Vertrauensverhältnis nicht mehr
zwischen Subjekten, sondern zwischen Subjekt und Objekt.18 Hier greift
das o. a. „Systemvertrauen“ nicht mehr: Die Funktion eines Rechtssys-
tems etwa, auf das die konkrete Person vertraut, wird noch durch konkrete
Personen abgesichert und ggf. im Einzelfall korrigiert (man denke an den
Ermessensspielraum von Richterinnen und Richtern). Das autonome Ob-
jekt handelt aber in einer Eigenverantwortung, zwar auf einer „eingepräg-
ten“ Entscheidungsbasis, aber maßgeblich aufgrund eigener und fremder
„Lernvorgänge“19 und situativ-konkreter Gegebenheiten.20
Dieses Objekt hält, und hier greife ich zu einer gefährlichen Analogie, Sach-
verhalte für wahr („die Rückmeldung der Sensoren entspricht den tatsäch-
lichen Gegebenheiten in der Umgebung“), ohne aber über entsprechende
reflexive Fähigkeiten zu verfügen. – Der Begriff eines „Ich“ als philo-
sophische Ausgangsbasis der subjektiven Welterkenntnis des Menschen
14 Viktor Frankl definiert den Man-
gel an Vertrauen als wesentliche
Ursache für Zwangsneurosen (vgl.
Frankl 2007, 199).
15 Hier wird unmittelbar einsichtig,
dass ein antirealistischer Wahr-
heitsbegriff nicht weiterhilft. Da das
Vertrauen ein jeweils subjektiver Akt
ist, kann ein (scheinbar) objektivie-
render Prozess kaum zur Klärung der
Wahrheitsproblematik beitragen.
16 Wer das Vertrauen in eine Person
schädigt, der kann sogar strafrecht-
lich verfolgt werden. So §152 StGB:
„Wer unrichtige Tatsachen behauptet
und dadurch den Kredit, den Erwerb
oder das berufliche Fortkommen
eines anderen schädigt oder ge-
fährdet, ist mit Freiheitsstrafe bis zu
sechs Monaten oder mit Geldstrafe
bis zu 360 Tagessätzen zu bestrafen.“
17 Diese Formen werden allerdings
nicht unter §152 StGB abgehandelt.
Zu denken ist hier an die systemati-
sche Diffamierung einer Firma, aber
auch an die des Rechtsstaates z. B.
durch die sog. „Staatsverweigerer“.
18 „Ansätze“ von KI, weil zwar im
Bereich der schwachen KI respektab-
le Fortschritte gemacht wurden (so
können Fahrzeuge bereits erstaun-
lich weitgehend autonom agieren),
aber ein Erreichen des eigentlichen
Zieles (die umfassend interaktive
und mit kreativem Planungspoten-
tial agierende KI) noch nicht greifbar
ist; von einer in Reichweite stehen-
den starken KI kann noch keine Rede
sein, und sie ist möglicherweise auch
völlig unerreichbar. Zur Unterschei-
dung zwischen starker und schwa-
cher KI vgl. Russell et al. 2016.
19 Ausschließlich eine vernetzte KI
kann eine sinnvolle KI sein.
20 Für die folgenden Beispielfor-
mulierungen wird auf die auf großes
öffentliches Interesse stoßende
Entwicklung autonomer Fahrzeuge
zurückgegriffen. Zu diesen und den
Autonomielevels 0-5 vgl. SAE Foun-
dation 2018.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 3:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 3:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 270
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven