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Karl Stöger | Dürfen Maschinen menschliche Barmherzigkeit ersetzen?
Der Stand der Pflegewissenschaften als Grenze der Digitalisierung
Jede Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen ist auf Grund rechtli-
cher Vorgaben an den jeweiligen Stand der Wissenschaft, konkret also der
Pflegewissenschaft, gebunden. Dies ergibt sich schon aus den grundrecht-
lichen („menschenrechtlichen“) Bestimmungen der Bundesverfassung,
der EMRK und – soweit anwendbar – der GRC. Der Europäische Gerichts-
hof für Menschenrechte hat mehrfach eine Verpflichtung des Staates be-
tont, die Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen insoweit zu steu-
ern (durch Genehmigungsverfahren und laufende Aufsicht über Einrich-
tungen), als Vorkehrungen gegen schwere Gesundheitsschädigungen auf
Grund mangelhaft erbrachter Gesundheitsdienstleistungen zu treffen sind
(zum Ganzen näher Stöger 2019, 16). Der Staat ist daher verpflichtet, die
Durchführung „digitalisierter Pflege“ in einer Art und Weise, die der phy-
sischen oder auch psychischen Gesundheit der zu pflegenden Personen
nach dem jeweiligen Stand der (Pflege-)Wissenschaft abträglich ist, zu
verbieten. Anwendungsfälle solcher Verbote wären etwa Assistenzsysteme
oder Companion Robots, die pflegebedürftigen Personen nicht helfen, son-
dern einen weiteren Abbau der noch vorhandenen körperlichen oder geis-
tigen Fähigkeiten bewirken. Auch der Einsatz von Überwachungssystemen,
die (in einer Abwägung gegen ihre Vorteile) ein gesundheitlich nachteiliges
Gefühl des Kontrolliert-Werdens auslösen, ist rechtlich unzulässig. Dass
zur Ermittlung dieser „Zulässigkeitsgrenze“ pflegerischer Sachverstand
notwendig ist, ist für sich kein Problem – auch in anderen Bereichen ver-
weist die Rechtsordnung zulässigerweise auf den „Stand der Wissenschaft“
bzw. der Technik (Stöger 2020).
Die große Herausforderung ist die „Verwirklichung“ dieser grundrecht-
lichen Vorgaben im Pflegealltag. Diesbezüglich ist zu beachten, dass die
Grundrechte unmittelbar nur den „Staat“ (insbesondere Bund, Bundes-
länder und Gemeinden) verpflichten, nicht aber „Private“, zu denen die
Betreiber von Pflegeeinrichtungen, die Hersteller von Pflegeequipment
und das Pflegepersonal zählen. Um auch diese „Privaten“ an die grund-
rechtlichen Vorgaben zu binden, muss der Staat diese Vorgaben ihnen ge-
genüber in entsprechende gesetzliche Anordnungen umwandeln. Solche
Anordnungen bestehen freilich auch: So sehen die Pflegeheimgesetze der
Die große Herausforderung ist die „Verwirklichung“
der grundrechtlichen Vorgaben im Pflegealltag.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 3:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 3:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 270
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven