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Claudia D. Bergmann | Allein am Tisch?
kräftigen, dass Abiturient:innen nun nicht mehr Schüler:innen, sondern
mit der allgemeinen Hochschulreife ausgestattet sind, Gesell:innen zu
Meister:innen, Individuen zu einem verheirateten Paar, Presidents Elect zu
Präsident:innen wurden, oder im antiken Kontext, dass ein:e Initiant:in in
einen Mysterienkult oder eine andere religiöse Gemeinschaft aufgenom-
men, ein Bund zwischen der Gottheit und den Menschen geschlossen oder
eine religiöse Regel etabliert wurde. Das sind alles Gegebenheiten, die nicht
nur Individuen, sondern auch die Gemeinschaft nachhaltig verändern, for-
men, festigen und eventuell auch vergrößern. Markus Öhler schrieb dazu:
„Essen, gerade auch in der Antike, ist nicht bloß Nahrungsaufnahme,
sondern konstitutiver Bestandteil von sozialer, also auch ethnischer, kul-
tureller oder religiöser Identität. Die Intensität, mit der gerade Speisen
und Mahlzeiten für die Bewahrung von kollektiver Identität wichtig sind,
differiert allerdings deutlich und hängt davon ab, wie zentral sie im Le-
ben der Gemeinschaft verankert sind“ (Öhler 2012, 189).
Diese identitätsbestimmende Funktion von Gemeinschaftsmählern in al-
len ihren Aspekten zeigt sich auch im Phänomen der nationalen Küchen
und der landestypischen Speisen, wie es Roland Barthes einmal über die
Franzosen sagte:
„[T]hrough his food the Frenchman experiences a certain national con-
tinuity. By way of a thousand detours, food permits him to insert him-
self daily into his own past and to believe in a certain culinary ‘being’ of
France“ (Barthes 1997, 24).
Auch im Judentum in Vergangenheit und Gegenwart kann man beobachten,
dass das gemeinsame Speisen identitätsbestimmend ist. Durch Speisege-
setze und verschiedene andere Regulierungen wurde es hoch ritualisiert.
Alltag und Festtag sind in den meisten Fällen eng mit Gemeinschaftsmäh-
lern verflochten, bestimmte Nahrungsmittel und Gerichte haben sowohl
im tatsächlichen als auch im imaginierten Speisen einen hohen symboli-
schen Wert. Dazu kommen lokale Ausprägungen und Bräuche, die in den
Tiefen der Tradition entstanden und bis in die Gegenwart hinein das Jü-
dischsein definieren. Zu Chanukka zum Beispiel verzehren viele Juden und
Jüdinnen, die der aschkenasischen Tradition entstammen, Kartoffelpuffer
(latkes), in der sephardischen Tradition werden oft in Öl gebratene und in
Honig getauchte Süßigkeiten, in Israel oft gefüllte Pfannkuchen (sufga-
nijjot) verzehrt. In der osteuropäische Tradition serviert man cholent, in
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 4:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 4:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 214
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven