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Claudia D. Bergmann | Allein am Tisch?
Gottheit zum Wohle des Volkes erinnern soll (siehe dazu auch Geiger 2009;
Altmann 2011; MacDonald 2008). Mähler und der mit ihnen verbundene
Gedanke von NahrungsfĂĽlle verbinden auch oft die biblischen Ideen von
Urzeit und Endzeit, nämlich dann, wenn wie im Jesajabuch oder auch beim
Propheten Ezechiel paradiesische Urzustände und die zukünftige Restau-
ration Israels miteinander in Beziehung gesetzt werden.
Vor allem in den Texten, die relativ spät zum Kanon hinzukamen, wird
deutlich, wie stark das „Wie?“ und das „Was?“ beim gemeinschaftlichen
Mahl Einfluss auf die sich entwickelnde jüdische Identität hatten. So be-
richtet Bel et Draco, ein Zusatz zum Danielbuch aus hellenistisch-jĂĽdischer
Zeit, dass die Nahrungsaufnahme zum MaĂźstab fĂĽr das Leben oder den Tod
der Hauptfiguren der Erzählung wird (vgl. Bergmann 2004). Im Estherbuch
wird deutlich zwischen den opulenten Festmählern „der Anderen“ und
dem „eigenen“ moderaten Verhalten unterschieden, und auch im Tobit-
buch ist Moderation ein hochgelobtes Gut (vgl. u. a. Est 1,10; Est 3,15; Est
4,16 oder Tob 4,5–19).
Bei diesen wenigen Beispielen wird die enge Verflechtung von Mahlge-
schehen und Identitätsbildung besonders deutlich, aber auch die scheinbar
individuellen Mähler oder die innerhalb einer Familie oder einer kleinen
Gruppe, von denen die Hebräische Bibel berichtet, beziehen sich als Narra-
tive auf die Gemeinschaft, sind sie doch fĂĽr diese geschrieben worden und
wollen sie doch im Kleinen symbolisieren, was auch im GroĂźen der Fall ist. So
ist das Festmahl beim Abstillen von Isaak (Gen 21,8) potentielles rituelles
Modell fĂĽr andere rites de passage im Genesisbuch, die Frage der Erbfolge
zwischen den Zwillingen Esau und Jakob, die letztlich zum GrĂĽndungsmy-
thos Israels gehört, wird mit Hilfe zweier bedeutungsträchtiger Mahlzei-
ten entschieden (Gen 25,29–34; Gen 27,14–28), und Bundesschlüsse in-
nerhalb einer Familie, wie der zwischen Laban und Jakob (Gen 31,44–46),
werden mit Festmählern besiegelt. Die Gruppe derer, die an diesen Mählern
teilnehmen, ist auf der Basis der Erzählung zwar klein, und doch betreffen
sie letztendlich das gesamte Volk Israel, wird in und mit ihnen doch erz-
elterliches Verhalten in Beziehung zueinander und zu Gott gezeigt sowie
Gottes Vorsehung hinsichtlich der Wurzeln Israels beschrieben und damit
Identität begründet. Und Speisegesetze wie die in Dtn 14 und Lev 1 machen
noch einmal ganz deutlich, dass das geregelte und rituell begangene Ein-
Eine enge Verflechtung von Mahlgeschehen
und Identitätsbildung
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 4:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 4:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 214
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven