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Claudia D. Bergmann | Allein am Tisch?
Rituale bringen Ordnung in das Chaos des täglichen Lebens und Sicher-
heit in Zeiten von Umbrüchen. Aber auch auf den menschlichen Körper
haben Rituale und deren Durchführung einen direkten Einfluss. Dass die
Teilnahme an Gruppenritualen das Stresshormon Cortisol sogar messbar
verringert, ist aus verschiedenen Studien bekannt. Sogar die Herzfrequenz
der Ritualteilnehmer:innen beruhigt und synchronisiert sich, wenn Ri-
tuale, wie auch das Singen, in Gemeinschaft durchgeführt werden (siehe
dazu u. a. Lang et al. 2017). Gleichzeitig, so beweisen es Studien, steigt in
den meisten Kulturen das hilfsbereite und kooperative Verhalten der Men-
schen, die miteinander eine Krise bewältigen müssen (vgl. Follmer/Brand/
Unzicker 2020). Das bewusste und unbewusste Streben nach Verlässlich-
keit und Kontinuität, also nach Ritualen, zeigte sich auch und gerade dann,
als man in der jüdischen Welt neue Wege finden musste, um Mahlrituale
durchzuführen.
Ritualpraktische Dimensionen: Technologie und Liturgie
Ritualpraktische Fragen betreffen vor allem die Durchführung von Ritualen,
ist doch in Zeiten einer Pandemie die körperliche Isolation der Menschen
voneinander aus medizinischen Gründen gefordert und zur Pandemieein-
dämmung notwendig. Um den gemeinschaftsstiftenden und -erhaltenden
Sinn von Ritualen aufrechtzuerhalten, wurden diese in ersten Schritten
relativ schnell adaptiert, noch ohne dass man tiefgründig und ausführlich
über diese rituellen Veränderungen nachgedacht hätte. So entstand zum
Beispiel die Idee, die Anforderungen des minyan mit einer gewissen Distanz
einzuhalten, nämlich (mit Blickkontakt) von Balkon zu Balkon, sodass man
weiterhin die täglichen Gebete im Kreis seiner Nachbarn ausführen konnte
(vgl. Frei-Landau 2020, 5258–5260; siehe auch Verlautbarungen der Cen-
tral Conference of American Rabbis 2020).
Zu Pessach wurden die „Vier Fragen“ in Israel gemeinschaftlich von den
Balkonen gesungen, außerdem konnten Israelis bei der im Fernsehen
übertragenen Sederfeier zusehen (siehe Staff 2020). Die religiösen Autori-
täten erlaubten weiterhin, dass auch Patientinnen und Patienten, die den
Geschmacks- und Geruchssinn verloren hatten, den Segen über Wein und
Speisen sprechen dürfen und dass das Ritual des Verbrennens von kosche-
Rituale wurden in ersten Schritten relativ schnell adaptiert, noch ohne dass
man tiefgründig über die rituellen Veränderungen nachgedacht hätte.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 4:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 4:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 214
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven