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Dilek Bozkaya und Alfred Garcia Sobreira-Majer | Interreligiöses Lernen am Buffet
2 Speisen im Alevitentum
(Gem)einsam Essen
Denkt man an religiöse Feste, so kommen einem in erster Linie Bilder eines
festlich gedeckten Tisches in den Sinn, an dem die gesamte Familie ge-
meinsam teilnimmt. Vielleicht sagt eine oder einer der Anwesenden ein
Tischgebet, und im Anschluss wird gemeinsam gespeist und getrunken.
Eine positive Energie, verbunden mit einer heiteren Stimmung innerhalb
der Gäste, durchströmt den ganzen Raum. Die Sprache, die verwendet wird,
klingt freundlich und alle fühlen sich am Tisch wohl und gut versorgt. Wie-
so ist das so?
Der Soziologe Georg Simmel beschreibt den Wunsch nach Essen als das
„Gemeinsamste aller Menschen“ (Simmel 1984 [1957], 243), als ein urzu-
ständliches Element des Menschseins. Er beschreibt die Nahrungsaufnah-
me als einen egoistischen Akt, der im Grunde Menschen voneinander eher
trennt als verbindet, da man dem anderen das Essen wegisst. Simmel weist
aber auch auf die Tatsache hin, dass die Nahrungsaufnahme zwischen dem
Wunsch der Lebenserhaltung und der zwischenmenschlichen Beziehung
zu orten ist, wobei hier die Mahlzeit selbst zwischen den beiden Ebenen
steht. Sie ist nach Simmel ein soziologisches Konstrukt, welches einheits-
stiftend sein kann, indem die vorher erwähnten egoistischen Elemente für
das Wohl der Gemeinschaft zurückgedrängt werden. Daher nennt Simmel
die Mahlzeit als die Brücke, die die Natur mit der Kultur vereinigt. Dies hat
die Folge, dass die teilnehmenden Gäste gemeinsam eine soziale Einheit
bilden, und aus einer primitiven und individuellen Notwendigkeit entwi-
ckelt sich ein öffentliches Ereignis (vgl. Simmel 1984 [1957]).
Helal Essen
Aus der alevitischen Perspektive betrachtet, bildet die Mahlzeit ebenso eine
Brücke zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft wie zwischen dem
Ich und dem Wir und zwischen Gott und dem Menschen. Denn nach ale-
vitischem Glaubensverständnis ist „der Mensch nicht nur gegenüber Gott
verantwortlich, sondern auch der Gemeinschaft, mit der er zusammen-
lebt“ (Güzelmansur 2012, 175). Hier steht jedoch nicht nur das gemein-
Die Mahlzeit als einheitsstiftendes soziologisches Konstrukt
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 4:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 4:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 214
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven