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Dilek Bozkaya und Alfred Garcia Sobreira-Majer | Interreligiöses Lernen am Buffet
Bevor die Cem-Zeremonie „versiegelt“5 wird, ruft der Dede nach dem/der
Lokmacı, welche/r den Gebetsraum mit einem großen Tablett betritt. Auf
diesem Tablett ist von allen Opfergaben ein Stück dabei, damit der Dede ge-
rechterweise alle mitgebrachten Opfergaben mit seinem Gebet segnen kann
(vgl. Aksünger-Kizil/Kahraman 2018, 129–130). Der/die Lokmacı verlässt
daraufhin den Gebetsraum und verrichtet seinen/ihren Dienst außerhalb
der Zeremonie. Während der Gebetszeremonie teilt die diensthabende Per-
son händisch das Brot auf, vermischt dieses mit den anderen Gaben und
verpackt sie in gleich große Portionen. Dahinter steckt die Verbergung des
Sozialstatus. Denn nicht die Menge ist hier relevant, sondern der Wille, et-
was zu teilen. Gegen Ende der Zeremonie verteilt der/die Diensthabende die
vorbereiteten Portionen an die Anwesenden und stellt sich vor den Geist-
lichen in die Mitte des Gebetsraumes (meydan). Dort fragt er/sie drei Mal
die Anwesenden, ob sie mit ihrem Lokma-Anteil einverstanden, d. h. im
Einvernehmen (rızalık) sind. Im Anschluss spricht der Dede das Tischgebet
(sofra duası), was zeitgleich die Erlaubnis ist, nun das Opfermahl gemein-
sam zu essen.
Zu diesem Punkt erzählt Nurten Kalayci, Fachinspektorin für Niederöster-
reich, Oberösterreich und Burgenland der alevitischen Glaubensgemein-
schaft in Österreich, dass die Praxis des Opfermahls auch im alevitischen
Religionsunterricht eingeführt wurde:
„Schüler:innen, oder die Lehrpersonen selbst, nehmen ein Lokma mit,
welches nach dem Lokmagebet geteilt und im Unterricht verspeist wird.
Da der alevitische Religionsunterricht meistens am Nachmittag statt-
findet, freuen sich die Schüler:innen besonders auf die kleine Stärkung.“
(Kalayci, persönliche Kommunikation, 4. Jänner 2021)
Süße Speisen – ein Symbol der Dankbarkeit und der Trauer zugleich?
Alevit:innen fasten zur Trauerfastenzeit Muharrem zwölf Tage lang und
beenden am 13. Tag ihre Fastenzeit mit einer süßen Suppe, der Aşure, wel-
che aus genau zwölf Zutaten zubereitet wird. Die Zahl Zwölf symbolisiert
hierbei die zwölf Imame, aus deren Nachkommen die Ocak-Familien6 ent-
standen sind. Alevit:innen bringen an diesem Tag für das Überleben von
Nicht die Menge ist relevant,
sondern der Wille, etwas zu teilen.
5 Am Anfang der Zeremonie fragt
der Dede die Teilnehmer:innen drei
Mal, ob sie miteinander und mit
dem Dede im Einvernehmen (rizalik)
sind. Dies ist die Hauptprämisse, um
mit der Cem-Zeremonie beginnen
zu dürfen. Danach wird der Raum
mit einem Gebet versiegelt. Ab die-
sem Zeitpunkt darf niemand den
Raum verlassen oder noch betreten.
Damit will man verhindern, dass mit
dem Eintreten einer neuen Person
das gegenseitige Einvernehmen er-
neut abgefragt werden muss.
6 Die Ocak (wörtlich: Herd, Feu-
erstelle) sind die religiösen und
sozialen Wegbegleiter ihrer Talips
(Schüler). „Die Ocak-Talip-Bezie-
hung wird wie eine geistige ‚Eltern-
Kind-Beziehung‘ verstanden“ (Ak-
sünger-Kizil/Kahraman 2018, 75).
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 4:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 4:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 214
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven