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Isabelle Jonveaux | Transfers des Fastens
dessen Körper mit schweren Mahlzeiten beschwert ist, faul werden kann
und schwach in seinem Kampf gegen andere Laster. Léo Moulin schreibt,
dass es im Mittelalter eine echte Tortur gewesen sein müsse, den Tisch zu
verlassen, „ohne seinen Hunger gestillt zu haben, und nicht außerhalb der
Mahlzeiten zu essen“ (Moulin 1978, 104; Übersetzung: I. J.)7. Nach Adalbert
de Vogüé bestehe das Fasten nach benediktinischer Tradition im Wesent-
lichen darin, den Zeitpunkt der ersten Mahlzeit des Tages zu verschieben,
die in der Fastenzeit erst nach der Vesper, also am Ende des Nachmittags,
eingenommen wurde.
Ein Verschwinden des Fastens?
Wie sieht es mit dem Fasten im klösterlichen Leben heute aus? Diese Reali-
tät kann von Gemeinschaft zu Gemeinschaft und insbesondere von Land zu
Land sehr unterschiedlich erlebt werden, wie Feldforschungen in Frank-
reich und Österreich gezeigt haben (vgl. Jonveaux 2018). Allerdings ist –
vor allem in Österreich – festzustellen, dass Mönche und Nonnen das Ge-
fühl haben, das Fasten würde tendenziell verschwinden. Wenn man ver-
gleicht, wie oft Fasten als konkrete Übung der Askese in den Interviews
erwähnt wird, steht es an zweiter Stelle, nach dem Gemeinschaftsleben.
Oft aber wird das Fasten von den Mönchen und Nonnen erwähnt, um zu
betonen, dass sie es selber nicht mehr so leben würden. Sie sagen etwa, sie
würden „nicht wirklich fasten“, „kein Fasten im strengen Sinn leben“ oder
dass man „die Fastenzeit nicht wirklich spürt“. Es sieht so aus, als hätten
die Mönche und Nonnen selbst den Eindruck, nicht mehr zu fasten.
Die Säule, um die herum sich Fastenpraktiken entwickeln, ist, wie bereits
erwähnt, besonders in Gemeinschaften der benediktinischen Tradition die
Frage des Fleischkonsums. Viele französische Gemeinschaften leben eine
völlige Fleischabstinenz, die jedoch im Krankheitsfall oder bei Einladun-
gen durch Laien ausgesetzt werden kann. In diesem Sinne handelt es sich
nicht um ein religiöses Verbot, denn es wird unterbrochen, wenn ein hö-
herer Grund es erfordert. Auch in Gästehäusern mancher Klöster bekom-
men die Gäste Fleisch, während die Mönche oder Nonnen keines essen. In
den untersuchten Klöstern in Österreich, Italien und Belgien erscheint die
Fleischabstinenz weniger streng und ist oft auf zwei oder drei Tage in der
7 Im Original: „sans avoir satis-
fait sa faim et de ne pas manger en
dehors des repas.“
Mönche und Nonnen selbst haben oft
den Eindruck, nicht mehr zu fasten.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 4:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 4:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 214
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven