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Michael Aldrian | Ahara – Nahrung
Verhungern erinnert sich der Bodhisattva (werdender Buddha) an ein Er-
lebnis in seiner Jugend, an die Erfahrung des Zufriedenseins, des Gleichge-
wichts, des Verbundenseins mit allem, was ist. Daraus zieht Gautama den
Schluss, dass die Extreme keinen Erkenntnisgewinn bringen und wählt den
Mittleren Weg, der ohne Anhaften an das Angenehme und ohne Ablehnung
des Unangenehmen der geistigen Schulung gewidmet ist. Für diesen Weg
galt die gelbe Robe der Asketen (Sramana) als die geeignete Kleidung und
das Almosen als die geeignete Ernährung.
Doch Buddha erkannte die Bedürfnisse der Vierfachen Gemeinschaft (Mön-
che, Nonnen, Laien und Laiinnen) an. Unter den Laien seiner Anhänger-
schaft fanden sich auch Könige, Kaufleute, Krieger, Kurtisanen, Menschen
aller Kasten des indischen Gesellschaftssystems mit recht unterschied-
lichen Ernährungsgewohnheiten. Sie alle einte eine Übung bezüglich des
Essens: Achtsamkeit.
Der bekannte Zen-Mönch Thich Nhat Hanh bringt in seinem Band Lächle
deinem eigenen Herzen zu eine Geschichte unter dem Titel „Die achtsame
Mandarine“. Hierin wird deutlich, dass die Frucht nicht bloß Nahrung ist,
sondern den Menschen auf vierfache Art nährt: körperlich, emotional, wil-
lentlich3 und bewusst. Die Frucht benötige einen Samen, gute Erde, ausrei-
chend Wasser, genügend Licht, einen fleißigen Bauern, der sie pflegt und
erntet, einen Lieferanten, einen Lagerhalter und einen Käufer, ehe sie als
Spende an die Gemeinde genossen werden könne. Bei genauer Betrachtung
wird hier eindrücklich das Abhängige Entstehen, eine Kernthese des Bud-
dhismus, dargelegt.4
Die Frucht wirkt aber auch nach innen, in die Betrachter:innen und Genie-
ßer:innen hinein: Alle Sinne sind am Genuss beteiligt. Hier beginnt auch
das Anhaften, welches ja ein Mehr oder Immer-wieder dieses Genusses
verlangt. Dieses Anhaften sei zu überwinden, weil es den Geist einenge und
gefangen nehme und dadurch unglücklich mache. Den Erfahrungen inne-
rer und äußerer Natur, angenehmen wie unangenehmen, gilt es gleich-
mütig zu begegnen, denn nur so wird das Leiden von Gier, Hass und Un-
wissenheit überwunden, die andernfalls in unserem Leben die Herrschaft
übernehmen.
In dieser Weise ist das Genießen erlaubt, denn die Gaben (dana5), die ge-
spendet wurden, werden dadurch gewürdigt, dass sie ohne Vorbehalt ge-
nossen werden. Kulturelle Traditionen des Essens in buddhistischen Län-
Erfahrung des Verbundenseins mit allem, was ist
3 „Willentlich“ meint, es bestärkt
den Willen, davon noch mehr zu
essen, und vermehrt damit das An-
haften daran.
4 Heute würde man das Wissen von
den Zusammenhängen in der Mit-
welt und unserer vollständigen Ab-
hängigkeit davon wohl ökologisches
Bewusstsein nennen.
5 „‘Dāna’ (orthographically identi-
cal in both Pāli and Sanskrit) covers
a rather broad semantic field. It not
only denotes the material substance
(i.e. ‘gift’) that is transferred from
one person to another but also the
act itself as well as the dispositon
of ‘liberality’ of which it ideally is a
reflection. [...] All three perspectives
figure in the constitution of dāna
as a social institution.“ (Fiorucci
2019, 3)
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 4:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 4:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 214
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven