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Naiver Realismus? Zur GegenstĂ€ndlichkeit des Sammelnsâ â
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gen zeitigt. Wir können solche Sammlungen als vortheoretische bezeichnen, weil
weder ihre Epistemologie noch ihre Ontologie bewusst reflektiert wird oder
reflektiert werden muss, sondern sich aus tradierten Praktiken von selbst ergibt.
Eine vortheoretische Sammlung interessiert sich fĂŒr die vom unproblematischen
Sammlersubjekt unabhÀngigen Sammlungsobjekte. Diese Sammlungen verfol-
gen zumeist einen VollstÀndigkeitsanspruch bzw. sind, im Sinne einer intuitiven
Mengenlehre, auf die zumindest theoretisch mögliche VollstÀndigkeit angelegt
(alle Briefmarken einer bestimmten Serie usw.).
Vielleicht entsprechen die meisten Sammlungen, die wir kennen, diesem
Typ. Ohne sie gÀbe es die SchÀtze nicht, die sich in Museen, Archiven oder Privat-
rĂ€umen ĂŒber die ganze Welt verteilt finden. Sie haben wesentlich zur Herausbil-
dung der Welt beigetragen, in der wir leben. Eine Kritik der vortheoretischen
Sammlung fÀllt deshalb zwangslÀufig mit einer Kritik des Bestehenden zusam-
men, ist womöglich der Anlass dazu. Genau diesen Fall verkörpert Martin Heid-
eggers Denken des Sammelns. Heidegger ist einer der wenigen Philosophen, die
sich explizit an einem solchen Denken versucht haben.1 Heidegger möchte einen
neuen Begriff des Sammelns entwickeln, der dem herkömmlichen entgegen-
gesetzt ist:
Wir sollen nur das Augenmerk darauf richten, daĂ das bloĂe Sammeln, der sogenannte
museale Betrieb, ohne die Gesammeltheit des geschichtlichen Menschen auf die innere Ver-
sammlung und Wahrung seines Wesens kein wahrhaftes Sammeln ist, daĂ somit das Wesen
des Sammelns keineswegs im aufraffenden Beibringen und Ausstellen sich erschöpft. (Hei-
degger 1975ff., GA 55, 291)
Der gewöhnliche Ausstellungsbetrieb wird hier von einem noch nÀher zu erlÀu-
ternden âwahrhaftenâ Sammeln abgesetzt, das auf (vorerst nebulöse) Weise mit
dem âWesenâ des Menschen zusammenhĂ€ngt. Dieses Sammeln ist abhĂ€ngig von
einem âBestimmungsgrundâ, der auf das âAufbewahren und Bewahrenâ hin ori-
entiert ist, mithin nicht um den Besitz der Sammelobjekte um des Besitzes (âauf-
raffendâ) noch um des bloà ÀuĂerlichen Zurschaustellens willen, sondern weil
die Sammlung den Grund ihres Willens zum Bewahren schon in sich enthÀlt. Sie
bedarf deshalb eines âschon waltenden und konzentrierenden Zentrum[s]â, des
Logos, der âdas alles vereinende Eineâ und zugleich die âabwesende Gegenwartâ
sei â also das Sein am Grunde des Seienden (Heidegger 1975ff., GA 55, 269, 317).
Diese Analyse hÀngt zusammen mit Heideggers Auffassung des Lesens als
Lese, d. h. als Sammlung. Heidegger möchte das Lesen aus dem Bereich der âRede
1â Siehe aber Sommer (1999) sowie Skirl et al. (2000). Das Denken des Sammelns spielt in sozio-
logischen und anthropologischen AnsÀtzen eine wichtigere Rolle (z. B. Stagl 1998).
Logiken der Sammlung
Das Archiv zwischen Strategie und Eigendynamik
- Titel
- Logiken der Sammlung
- Untertitel
- Das Archiv zwischen Strategie und Eigendynamik
- Autoren
- Petra-Maria Dallinger
- Georg Hofer
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-11-069647-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Archiv, Nachlassinventar
- Kategorien
- Weiteres Belletristik