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Die kulturpoetische Funktion des Archivs
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theorie vom Archiv als einer bloßen Sammlung der gegebenen Untersuchungs-
objekte ausgehen.
„Wo kein Text ist, da ist auch nichts, worüber zu forschen oder zu denken
wäre“ (Bakhtin 1986, 103). Aber etwas wird überhaupt erst zum Text oder als Text
lesbar durch seine Beziehung zu anderen Texten, intertextuell. „Textualität heißt
auch: Praxis des Archivs“ (Ernst 1997, 306), bemerkt Wolfgang Ernst. In kulturpo-
etischer Lesart heißt das: Das Archiv versammelt die für die Kontextualisierung
verfügbaren Texte, es enthält sämtliche Texte, zu denen der Einzeltext in Bezie-
hung gesetzt werden kann, aber noch nicht diese Beziehungen selbst. Das bedeu-
tet, dass es in sich noch nicht indexikalisiert oder strukturiert sein kann. Es ist
nicht nur gekennzeichnet durch die „Gleichzeitigkeit seiner Dokumente, die doch
aus verschiedenen Zeiten stammen“ (Ernst 2002, 49), sondern ganz generell
durch deren strenge Nebenordnung – sans ordre et sans ordre (vgl. Derrida 1997).
Es hat, wenn man so will, die Form einer Volltext-Datenbank noch ohne Indices
und ohne Links.
Ist es nicht naiv, angesichts einer entwickelten Archiv-Forschung, die von der
Handhabung konkreter Archive bis hin zu einer dekonstruktivistischen Archiv-
Theorie reicht, einen derart schlichten Archiv-Begriff vorzuschlagen? Nun, es sei
daran erinnert, was eine kulturwissenschaftlich informierte Literaturwissen-
schaft leisten soll: Sie soll Texte in ihrer Kultur kontextualisieren. Dazu ist es
nötig, in einem ersten Schritt die verfügbaren Dokumente dieser Kultur nebenei-
nander auf den Tisch zu legen. Das, was dann auf diesem Tisch liegt, nenne ich
Archiv. Ohne Zweifel kommen im wirklichen Leben die Texte immer schon irgend-
wie rubriziert, eingeordnet und bewertet auf uns. Jedes konkrete Archiv ist das
Ergebnis entsprechender Prozesse. Aber der erfolgreiche Kunstgriff der New His-
toricists lag ja zunächst einmal darin, die überkommenen Rubriken, Narrative
und Wertungen der Renaissance-Forschung in Frage zu stellen, den Tisch sozusa-
gen wieder frei zu machen für neue Anordnungen. Der vorgeschlagene Archivbe-
griff ist also gar nicht so abstrakt, wie er zunächst erscheinen mag, wenn man
real existierende Archive im Sinn hat. Zu deren Beschreibung taugt er freilich
nicht. Er ist jedoch ausgesprochen konkret im Sinne einer methodologischen
Vorgabe: Die Dokumente einer gegebenen Kultur sind zunächst zu kollationieren
und nebeneinander anzuordnen. Das entsprechende, Archiv genannte Textkor-
pus ist Bedingung, Gegenstand und Grenze aller folgenden kulturwissenschaft-
lichen Operationen.
Logiken der Sammlung
Das Archiv zwischen Strategie und Eigendynamik
- Titel
- Logiken der Sammlung
- Untertitel
- Das Archiv zwischen Strategie und Eigendynamik
- Autoren
- Petra-Maria Dallinger
- Georg Hofer
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-11-069647-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Archiv, Nachlassinventar
- Kategorien
- Weiteres Belletristik