Seite - 37 - in Logiken der Sammlung - Das Archiv zwischen Strategie und Eigendynamik
Bild der Seite - 37 -
Text der Seite - 37 -
Die kulturpoetische Funktion des Archivs
37
Dennoch bleibt das Faktum, dass niemals die Gesamtheit einer Kultur über-
liefert wird, und damit die Frage: Wie komme ich zu Hypothesen darüber, was
nicht im Archiv ist und warum es nicht im Archiv ist? Es versteht sich ja am Rande,
dass Krumhardt seine Erinnerungen an den Vogelsang ebenso wie Stuckrad-
Barre seine Mikroenzyklopädien der Popkultur zugleich sammelt und generiert.
Sie schaffen die Archivdaten zugleich mit ihrer Vertextung. Sie stellen Kultur her,
indem sie sie registrieren. Ebenso klar ist aber etwa seit Nietzsche, dass es aus
diesen Daten keinen Weg zurück zu einem Eigentlichen und Ursprünglichen gibt,
das hier vertextet worden wäre. Il n’ya pas dehors-texte – es gibt kein Draußen des
Archivs; die hermeneutische Figur einer ‚Übersetzung aus einem verlorenen
Urtext‘ (Günter Eich) ist von vornherein falsch konzipiert, und wir können auch
präzise benennen, warum: weil man nicht mit etwas vergleichen kann, was nicht
da ist. Nur im Vergleich mit anderen Sequenzen des Archivs aber lassen sich
Lücken und Leerstellen in seinen Texten benennen – oder im Vergleich mit
anderen Archiven.
Der Verdacht, Archive seien sozusagen in der Regel Werkzeuge aktiver,
machtpolitischer Selektion, scheint mir dagegen so etwas wie ein links-romanti-
scher Topos zu sein. Selbstverständlich gibt es in der Geschichte immer wieder
kulturpolitische Ordres, die den Ausschluss und manchmal sogar die Vernich-
tung bestimmter kultureller Segmente bezwecken. Allein dadurch aber, dass sie,
als aktive inquisitorische Maßnahmen, explizit werden müssen, hinterlassen
solche Eingriffe jedoch in der Regel Spuren: Befehle, Aktenvermerke, Begrün-
dungen, Schwärzungen und andere Palimpseste – denken Sie an jene unheim-
lichen Auren, die die wegretuschierten Personen auf den Gruppenbildern der
Stalin-Ära hinterlassen. Schwarze Listen (also Kataloge) werden angelegt, Gift-
schränke, ja Museen der zu vernichtenden Kultur. Und dabei ist noch gar nicht
von den Dokumenten des Widerstandes die Rede, die solche archivpolitische
Unterdrückung provoziert. Aktive Unterdrückung ist zumindest seit der Moderne
einer der wichtigsten Diskurs- und Vertextungsanlässe überhaupt. Man könnte
geradezu behaupten: Je ausdrücklicher etwas aus dem Archiv einer gegebenen
Kultur verdrängt werden soll, desto nachhaltiger wird es sich in dieses Archiv
einschreiben – gespenstisch vielleicht, aber darum nicht weniger machtvoll.
Nein, die Verlustquote bei der Archivierung der Geschichte scheint mir in der
Regel sehr viel banaleren Ursprungs: Wie in Raabes Vogelsang gehen die Dinge
dabei zuerst ihres Gebrauchswertes, ihrer Kontiguitätsrelationen verlustig, und
dann auch noch ihres Erinnerungswertes, ihrer paradigmatischen Dimension.
Am Ende stehen sie in keinerlei textuellen Zusammenhängen mehr und somit
quasi außerhalb der Kultur und werden folgerichtig als Müll aussortiert. Es über-
lebt nur, was – als Baumaterial oder Buchumschlag – sekundäre Verwendung
findet oder was in Erdschichten oder Dachkammern zu liegen kommt, wo es nie-
Logiken der Sammlung
Das Archiv zwischen Strategie und Eigendynamik
- Titel
- Logiken der Sammlung
- Untertitel
- Das Archiv zwischen Strategie und Eigendynamik
- Autoren
- Petra-Maria Dallinger
- Georg Hofer
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-11-069647-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Archiv, Nachlassinventar
- Kategorien
- Weiteres Belletristik