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110 Stephan Gaisbauer
werden sollte. Es handelt sich dabei um das sogenannte Lautdenkmal reichs-
deutscher Mundarten, das ursprünglich 300 Hörbeispiele deutscher Dialekte
umfassen und damit einen repräsentativen Querschnitt durch alle Landschaften
des Deutschen Reichs darstellen sollte (vgl. Wilking 2003, 203–220). Die wissen-
schaftliche Konzeption der Aufnahmen oblag den Marburger Sprachwissen-
schaftlern Bernhard Martin und Walther Mitzka, die technische Umsetzung
erfolgte durch die Firma Telefunken, die acht Monate lang einen großen Aufnah-
mewagen durch das Land schickte. Von den Ortsaufnahmen wurden jeweils ein-
zelne Schallplatten angefertigt, die in einem aufwändig gestalteten Holzschrank
mit Landkarten und einem integrierten Abspielgerät aufbewahrt wurden. Die
Überreichung dieses überdimensionalen „Dialekt-Wurlitzers“ an den Führer fand
allerdings nicht an dessen Geburtstag, sondern erst verspätet am 30. Juni 1937
statt.
Unmittelbar nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich wurde
über eine Erweiterung der Plattensammlung beraten. Die betreffenden Stellen in
Wien waren offenbar schon länger darauf vorbereitet, denn bereits am 6. April
1938 kam es zur ersten Erhebungsfahrt in Hitlers Geburtsstadt Braunau. An den
Aufnahmen beteiligt waren der deutsche Projektleiter Fritz Debus, die Wiener
Professoren Anton Pfalz, Eberhard Kranzmayer und Dietrich Kralik sowie ein
Techniker der Firma Telefunken. Österreichweit wurden 70 Orte für Sprachauf-
nahmen ausgewählt und nach der Eingliederung der Sudetengebiete noch weitere
30 Aufnahmen gemacht (vgl. Braun 2015). Allein schon die Auswahl der Erhe-
bungsorte (Braunau, Leonding, Mauterndorf usw.) verweist auf den politischen
Opportunismus dieses Unternehmens, umso mehr zeigt sich inhaltlich, dass
viele Sprachaufnahmen vorbereitet und gelenkt waren und dass das Projekt ins-
gesamt der Propaganda und der Gleichschaltung dienen sollte.
Nach dem Krieg hat die germanistische Fachwelt um die Aufnahmen des
Lautdenkmals einen weiten Bogen gemacht. Über Walther Mitzka wird etwa
berichtet, dass er noch während des Einmarschs US-amerikanischer Truppen
seinen als Ehrengabe erhaltenen Plattensatz zerstört haben soll (vgl. Wilking
2003, 218). Erst Ende der 1990er-Jahre wurden die Platten in Deutschland gesich-
tet und digitalisiert. Die österreichischen Aufnahmen, die lange Zeit unbeachtet
im Phonogrammarchiv lagerten, wurden erst 2014 vollständig erschlossen. Eine
Besonderheit des österreichischen Korpusteils ist die Tatsache, dass neben den
Aufnahmen auch die Kontextmaterialien (Aufnahmeprotokolle, Korrespondenzen
usw.) er
hal
ten geblieben sind (vgl. Braun 2015, 9–10).
Logiken der Sammlung
Das Archiv zwischen Strategie und Eigendynamik
- Titel
- Logiken der Sammlung
- Untertitel
- Das Archiv zwischen Strategie und Eigendynamik
- Autoren
- Petra-Maria Dallinger
- Georg Hofer
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-11-069647-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Archiv, Nachlassinventar
- Kategorien
- Weiteres Belletristik