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Archiv und Politik
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Identitätsstiftung gewesen, ebenso die von Sauer 1893 ins Leben gerufene Biblio-
thek deutscher Schriftsteller in Böhmen. Im März und April 1899 schließlich
beschloss die „Gesellschaft“ die Neuedition einer Werkausgabe Stifters, die den
damals ,modernen‘ textkritischen Ansprüchen genügen sollte; das Modell hierfür
bildete die in jenen Jahrzehnten entstehende Weimarer ,Sophien-Ausgabe‘ der
Werke Goethes, wobei – sicherlich anders als heute, aber nicht unwichtig zu
erwähnen – in der neugermanistischen Philologie die unter Beweis gestellte Ver-
trautheit mit „Archiv- und Editionsarbeit“ (Riener 2011, 289) einen wesentlichen
Prüfstein für die künftige akademische Karriere bildete. Dass, mentalitätsge-
schichtlich am Vorbild Goethe orientiert, Stifter damit durchaus vergleichbar als
repräsentativer deutsch-böhmischer ,Klassiker‘ inthronisiert werden sollte,
machen die beiden 1901 und 1906 veröffentlichten Berichte Sauers zur Edition
ebenso deutlich wie sein Vorwort zum ersten 1904 erschienenen Band der Ausgabe
(Stifter, PRA, Bd. 1, VII–XXX),2 die dann – von den Wirren des Ersten Weltkriegs
eben so wenig verschont wie von den institutionellen Umstrukturierungen infolge
der Gründung der tschechoslowakischen Republik – seit 1927 in Reichenberg,
dem heutigen Liberec, verlegt wurde. Das hier implementierte harmonisierende
Bild Stifters als regionalem Böhmerwalddichter fernab aller Traditionsbrüche der
literarischen Moderne um 1900 sollte sich rezeptionsgeschichtlich nicht nur hart-
näckig bis weit in die zweite Jahrhunderthälfte behaupten, sondern, wie zu
zeigen sein wird, auch unmittelbar auf dessen Archivierung auswirken.
In unserem Zusammenhang ist dabei der am 3. März 1902 von der „Gesell-
schaft zur Förderung deutscher Wissenschaft“ beschlossene öffentliche Aufruf
relevant, mit Schenkungen, zeitweiligen Überlassungen oder aber Verkäufen zur
Gründung und dem Aufbau eines „Stifter-Archivs“ beizutragen. Waren in den
Jahren nach Stifters Tod im Januar 1868 weite Teile des Nachlasses in den Besitz
seines in Pest, später in Preßburg ansässigen Verlegers Gustav Heckenast (1811–
1878) übergegangen, bleibt allenfalls partiell rekonstruierbar, was Stifters Witwe
Amalia (1811–1883) Besuchern wie brieflichen Bittstellern bereitwillig an Auto-
graphen überließ. Dank intensiver Sammlertätigkeit wie vor allem auch großzü-
giger Schenkungen, etwa durch den Wiener Industriellen und Kunstmäzen Karl
Adolf Ludwig Freiherr Bachofen von Echt (1830–1922), verfügte das Prager Stifter-
Archiv so nicht nur über Handschriften von Stifters frühestem Prosafragment
Julius wie der späten Erzählungen Nachkommenschaften, Der Kuß von Sentze und
2 In der „Einführung“ zu den Studien. Erster Band heißt es gleich eingangs: „Unter den Dichtern,
die Böhmens deutsche Erde hervorgebracht hat, nimmt Adalbert Stifter unbestritten die erste
Stelle ein. Er allein unter ihnen hat sich einen festen Platz in der Weltliteratur errungen“ (Stifter,
PRA
1, VII).
Logiken der Sammlung
Das Archiv zwischen Strategie und Eigendynamik
- Titel
- Logiken der Sammlung
- Untertitel
- Das Archiv zwischen Strategie und Eigendynamik
- Autoren
- Petra-Maria Dallinger
- Georg Hofer
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-11-069647-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Archiv, Nachlassinventar
- Kategorien
- Weiteres Belletristik