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36 | Gerhard Botz, Alexander Prenninger und Regina Fritz
sächlich, dass lebensrettender Solidarität im Lager enge Grenzen gesetzt waren : Zu den
«Geretteten» konnten in erster Linie diejenigen gehören, denen eine solidarische Hilfe
durch Mithäftlinge langfristig zuteilwurde, die «leichtere» Zwangsarbeit verrichten
mussten, die in der von der SS gesetzten Häftlingshierarchie «Privilegierte» waren, die
aufgrund ihrer Funktionen Zugang zu Ressourcen hatten34 – um nur einige Faktoren
zu erwähnen. Nach den Forschungen von Elmer Luchterhand bildeten stabile Freund-
schaften eine zentrale Ressource für gegenseitige Unterstützung und damit die Grund-
einheit des Überlebens – eine These, die sich in vielen MSDP-Interviews bestätigt fin-
det.35 Unbekannt wird uns hingegen immer bleiben, wie die «Untergegangenen»36 den
Terror der Verfolgung und des Konzentrationslagers sowie die Solidarität und Rivalität
unter den Häftlingen erlebt hatten.
Hinzu kamen individuelle Faktoren aus der vorkonzentrationären Zeit, die das Leben
der einzelnen Häftlinge erschwerten oder erleichterten. So konnten für das Überleben
im Konzentrationslager Verfolgungserfahrungen vor der Deportation (Gefängnishaft,
Ghettoisierung, Arbeitsdienst etc.), Zeitpunkt und Art der Deportation (Transport in
Waggons, Fußmarsch, Versorgung auf dem Transport etc.), bereits durchlaufene Lager
usw. entscheidend werden. Im Lager wiederum erlangten meist Sprachkenntnisse, ein
früherer Beruf oder familiäre und freundschaftliche Bindungen zu anderen Mithäftlin-
gen eine wesentliche Bedeutung. «Essen, Unterkunft, Verhalten der Wachen gegenüber
den Häftlingen, Art der Arbeit, Distanz des Lagers von der Arbeitsstätte, Ausmaß der
Überbelegung der Baracken, Verhalten der Kapos und Funktionshäftlinge zu ‹norma-
len› Häftlingen, Verhalten ziviler Arbeiter zu den KZ-Häftlingen»37 unterschieden sich
in den einzelnen (Außen-)Lagern und beeinflussten das Leben der Einzelnen maßgeb-
lich.38 Zu fragen ist auch nach den spezifischen Bedingungen, unter denen Frauen im
«Männerlager» Mauthausen seit Herbst 1944 zu leben hatten.
34 Gerhard Botz/Michael Pollak : Survivre dans un camp de concentration. Entretien avec Margareta Glas-
Larsson, in : Actes de la recherche en sciences sociales 41 (1982), S. 3–28.
35 Elmer G. Luchterhand : Prisoner Behavior and Social System in the Nazi Concentration Camps, in : The
International Journal of Social Psychiatry 13.4 (1967), S. 245–264 ; nunmehr auch : ders.: Einsame Wölfe
und stabile Paare. Verhalten und Sozialordnung in den Häftlingsgesellschaften nationalsozialistischer
Konzentrationslager, hg. v. Andreas Kranebitter/Christian Fleck, Wien 2018 [1952] (Mauthausen-Stu-
dien, 11). Vgl. Marie-Josèphe Bonnet : Plus forte que la mort. L’amitié féminine dans les camps, Rennes
2015.
36 Primo Levi : Die Untergegangenen und die Geretteten, München 1993 [1986].
37 Jacob Goldstein et al.: Individuelles und kollektives Verhalten in Nazi-Konzentrationslagern. Soziologi-
sche und psychologische Studien zu Berichten ungarisch-jüdischer Überlebender, Frankfurt a. M./New
York 1991 (Studien zur Historischen Sozialwissenschaft, 16), S. 29. Zur Rolle von Sprachkenntnissen vgl.
Wolf (Hg.) : Interpreting in Nazi Concentration Camps.
38 Bertrand Perz hat etwa auf den Unterschied zwischen dem Arbeitseinsatz in Bau- und Produktionslagern
für die Überlebenschancen hingewiesen in : Der Arbeitseinsatz im KZ Mauthausen, in : Herbert et al.
(Hg.), Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur, Bd. 2, Göttingen 1998,
S. 533–557.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
Band 1
- Titel
- Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
- Band
- 1
- Autoren
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Herausgeber
- Heinrich Berger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21217-1
- Abmessungen
- 16.8 x 23.7 cm
- Seiten
- 426
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen