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50 | Gerhard Botz
Erinnerungsforschung zu Mauthausen – vor allem im Mauthausen Survivors Documen-
tation Project und im Mauthausen Survivors Research Project – zu formieren begann.
Die schiere Unerträglichkeit des menschlichen Leids und der in den Erzählungen
nicht selten mitschwingende Grundtenor eines immer heroisch-solidarischen Verhal-
tens der Häftlinge waren oft nur mit einer mehr oder weniger weit gehenden distanzie-
renden «Objektivität» auszuhalten gewesen, weil ein solcher Blick auf die Vergangenheit
selbst bei routinierten ErzählernÂ
– etwa als der eines «Berufsauschwitzers»10Â
– leicht in
ein ritualisiertes und «unterkühltes Gedächtnis» umkippen konnte. Dass eben das ein
Schutzmechanismus vor unerträglich werdenden Erinnerungen und Traumatisierun-
gen war, wurde nicht immer gesehen und von manchen Historikern und Historikerin-
nen bewusst abgelehnt. Welche Verschiebungen der Erinnerung, Uminterpretationen,
politische Färbungen, historische Vereinfachungen, Ungenauigkeiten oder Fakten-
fehler dabei auch immer vorkamen, die Authentizität der Erzählung des Zeitzeugen
oder der Zeitzeugin wurde erst spät erkannt und geschätzt, auch wenn das Erzählte oft
weniger etwas über das «Geschehene» als über die individuelle und kollektive Erinne-
rungs- und Verarbeitungsweise aussagte.11 Es ging dabei um «Erfahrungsgeschichte»,
die allerdings immer auch Indikator und Korrektiv für «Faktengeschichte» sein konnte,
oder, wie man heute schon zu sagen gewöhnt ist, um das Entschlüsseln von fake news
und ein entschiedenes Entgegentreten im Hinblick auf GeschichtslĂĽgen.12
3. Daraus erklärt sich einerseits auch, dass schon in den ersten Jahren nach 1945 in
Mauthausen wie an vielen anderen KZ-Gedenkstätten des ehemaligen «Dritten Reichs»
Gedenkrituale (bei Befreiungsfeiern und an anderen Gedenktagen) abgehalten wur-
den, Einzelne, Familien oder Vereine und Verbände zu «authentischen», gleichsam
«sakralen» Gedächtnisorten pilgerten, während die breiten Öffentlichkeiten vieler
Nachkriegsgesellschaften davon nicht berĂĽhrt wurden und abseits standen.13 Solche
Erinnerungsgemeinschaften begannen zunehmend Votivplaketten, Gedenktafeln, Mo-
numente fĂĽr ihnen nahestehende Opfer des KZ-Systems anzubringen, die auch mit
einem eigenen Denkmalsbezirk das Erscheinungsbild der Gedenkstätte Mauthausen
präg(t)en – was in den ost- und westdeutschen KZ-Gedenkstätten aus unterschiedli-
chen geschichtspolitischen Motiven bestenfalls ansatzweise möglich war.14
10 Siehe Brigitte Halbmayr : Zeitlebens konsequent. Hermann Langbein, 1912–1995. Eine politische Biogra-
fie, Wien 2012, S. 198 u. 289.
11 Karin Stögner : Lebensgeschichtliche Interviews und die «Wahrheit der Erinnerung». Einige Überlegun-
gen zum Mauthausen Survivors Documentation Project (MSDP), in : Eleonore Lappin/Albert Lichtblau
(Hg.), Die «Wahrheit der Erinnerung». Jüdische Lebensgeschichten, Innsbruck et al., 2008, S. 169–179.
12 Almut Leh/Lutz Niethammer (Hg.) : Kritische Erfahrungsgeschichte und grenzĂĽberschreitende Zusammenar-
beitÂ
– The Networks of Oral History. Festschrift für Alexander von Plato, Leverkusen 2007 (BIOS, Sonderheft).
13 Siehe Alexander Prenninger : Praxis des Gedenkens. Erinnerungsrituale in ehemaligen Konzentrations-
lagern in Deutschland und Polen im Vergleich mit Österreich. Endbericht des Jubiläumsfondsprojekt
Nr. 8955, Wien/Salzburg 2002 (LBIHS-Projektberichte, 13).
14 Siehe hierzu Alexander Prenninger : «Das schönste Denkmal, das wir den gefallenen Soldaten der Frei-
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
Band 1
- Titel
- Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
- Band
- 1
- Autoren
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Herausgeber
- Heinrich Berger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21217-1
- Abmessungen
- 16.8 x 23.7 cm
- Seiten
- 426
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen